Die Sünde der Brüder
kann.«
»In den Lake District?« Minnie richtete den Blick erst auf ihn, dann auf die geschlossenen Vorhänge, wo hinter diversen Lagen aus Spitze und blauem Samt die Fensterscheiben schwach im Wind klapperten. »Bei diesem Wetter? Was ist das, irgendeine Familiengeisteskrankheit? Als Nächstes wird eure Mutter noch mitten in einem Hurrikan ankündigen, dass sie nach Tierra del Fuego aufbricht.«
Grey lächelte sie an, und zum zweiten Mal wurde ihm klar, dass es unklug wäre, einer Schwangeren von Geneva Dunsanys Tod zu erzählen.
»Einer meiner Gefangenen aus Ardsmuir arbeitet dort seine restliche Strafe ab. Ich muss einige Verwaltungsdinge mit ihm klären -« ›Verwaltungsdinge‹ war ein Wort, das gewöhnlich der größten Vorwitznase jedes Interesse raubte, und schon wurden auch Minnies Augen glasig. »Ich muss sofort abreisen, um rechtzeitig zur Hochzeit zurück zu sein, weil das Regiment kurze Zeit später nach Frankreich übersetzt.«
»Mr. Fraser? Melton hat mir von ihm erzählt. Ja, du wirst dich beeilen müssen.« Sie seufzte und presste sich unbewusst eine Hand auf den Bauch. Hal hatte gesagt, das Kind würde im Herbst erwartet; es war gut möglich, dass es vor seiner Rückkehr geboren wurde.
Grey bemühte sich nach Kräften, Minnie von dieser bestürzenden Vorstellung abzulenken, indem er ihr von seiner Begegnung mit den O’Higgins-Brüdern im Park erzählte, und es gelang ihm, sie damit wieder zum Lachen zu bringen.
Als er schließlich ging, stellte sie sich auf die Zehenspitzen, um ihn auf die Wange zu küssen, dann blickte sie ungewohnt ernst zu ihm auf. »Du wirst doch vorsichtig sein, John? Meine Tochter wird nämlich ihren Patenonkel brauchen.«
»Tochter?« Er blickte unwillkürlich auf ihren Bauch, dem noch nichts anzusehen war.
»Es muss ein Mädchen sein. Ich kann es nicht ertragen, mich um einen weiteren Mann zu sorgen - ihr macht euch ja doch nur alle ans Ende der Welt davon, um euch in Stücke hacken zu lassen oder an der Pest zu sterben.« Sie lächelte nach wie vor, doch er hörte das Beben in ihrer Stimme, und er berührte sie sanft an der Schulter.
»Patenonkel?«
»Erzähle es nicht Melton; ich habe es ihm noch nicht gesagt.«
»Dein Geheimnis ist bei mir gut aufgehoben«, versicherte er ihr, und ihr Lächeln wurde wieder natürlicher.
»Gut. Aber du wirst doch vorsichtig sein, John?«
»Ja«, sagte er und trat in das weiße Gewirbel hinaus. Dabei fragte er sich, ob es James Fraser war oder er selbst, dem diese unheilvolle Aura anhaftete, die sowohl seine Mutter als auch Minnie bewog, ihn zur Vorsicht zu drängen.
Genau das hätte er seine Mutter unter anderem gern gefragt. Doch bei seiner Rückkehr zur Jermyn Street musste er feststellen, dass Minnie mit ihrer Bemerkung über die an eine Manie grenzende Reiselust seiner Familie richtiger gelegen hatte, als er gedacht hatte; die Gräfin war tatsächlich fort. Allerdings war sie nicht in Tierra del Fuego, sondern sah sich an der Drury Lane ein Theaterstück an - ironischerweise war es genau jene Aufführung, die er gern mit Percy Wainwright gesehen hätte - und hatte angekündigt, dass sie aufgrund des Schnees danach in General Stanleys Haus übernachten würde.
Für ihn war sie damit genau so unerreichbar, und er musste sich damit begnügen, Hal einen kurzen Brief zu schreiben, in dem er ihn von seiner geplanten Abwesenheit und dem Datum seiner Rückkehr unterrichtete und mit Nachdruck zu Protokoll gab, dass er erwartete, über jede weitere Entdeckung bezüglich des besagten Dokumentes - gemeint war die Tagebuchseite - unterrichtet zu werden.
Er erwägte kurz, die Möglichkeit zu erwähnen, dass die Gräfin eine ähnliche Seite erhalten hatte, verwarf den Gedanken
dann jedoch. Hal hatte gesagt, er würde mit ihrer Mutter über die Tagebuchseite sprechen; falls sie ein weiteres Blatt erhalten hatte, war davon auszugehen, dass sie es ihm sagen würde. Und Grey hatte die feste Absicht, nach seiner Rückkehr aus Helwater selbst mit der Gräfin zu sprechen.
Er war schon im Begriff, seinen Federkiel beiseitezulegen, als ihm der Zwischenfall mit den O’Higgins-Brüdern einfiel. Also griff er seufzend erneut danach, diesmal, um eine kurze Note an Hauptmann Wilmot zu schreiben, dem die Brüder theoretisch unterstanden - obwohl er sie insgeheim eher als Naturgewalten betrachtete denn als disziplinierte Bestandteile der Militärmaschinerie.
»Es hat aufgehört zu schneien, Mylord!« Tom Byrds Stimme erreichte ihn schwach,
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