Die Sünde der Brüder
und als er zur Seite blickte, sah er seinen Kammerdiener aus dem geöffneten Fenster lehnen. Ein kalter Luftzug umwehte seine Knöchel wie eine Geisterkatze, doch der Wind hatte sich gelegt. Offensichtlich war der Sturm vorüber.
Er trat an Toms Seite, und dieser zog nun den Kopf wieder ein, der von der Kälte errötet war. Draußen lag alles still, rein und friedlich unter einer weißen Decke. Er schabte mit dem Finger etwas Schnee von der Fensterbank und aß ihn, genoss das körnige Gefühl auf seiner Zunge, als er schmolz, und den schwachen Geschmack nach Ruß und Metall, der ihm anzuhaften schien. Es lagen nur ein paar Zentimeter auf der Fensterbank, und der Himmel war jetzt klar, ein kaltes, tiefes Violett, voller Sterne.
»Ich wette, morgen früh scheint die Sonne«, sagte Tom voller Genugtuung. »Die Straßen werden im Handumdrehen frei sein.«
»Die Straßen werden sich im Handumdrehen in Schlamm verwandeln, meint Ihr wohl«, sagte Grey, aber er lächelte dennoch. Trotz der traurigen Natur ihres Ausflugs teilte er Toms Vorfreude auf die Reise. Er hatte einen langen Winter in geschlossenen Räumen hinter sich.
Da er fertig gepackt hatte, nahm sich Tom jetzt des Mantels,
Rocks und der Weste an, die Grey abgelegt hatte, und leerte auf seine übliche systematische Weise die Taschen. Lose Münzen steckte er in Greys Geldbörse, zerknitterte Taschentücher warf er auf einen Haufen mit schmutzigem Leinen, lose Knöpfe legte er beiseite, um sie wieder anzunähen, und diverse andere Gegenstände, die er darin fand, sah er einfach nur schief an.
»Das ist ein Stanzdorn«, sagte Grey hilfsbereit, als er sah, wie Tom angesichts eines kleinen, spitzen Metallgegenstandes die Augenbrauen hochzog. »Oder zumindest ein Teil davon. Man benutzt ihn, um die Nagellöcher in Hufeisen zu stanzen.«
»Gewiss doch«, sagte Tom und legte den Gegenstand beiseite, während er Grey ansah. »Glaubt Ihr, sein Besitzer möchte ihn zurückhaben?«
»Ich glaube nicht; er ist ja nicht mehr vollständig.« Normalerweise war ein solcher Dorn etwa dreißig Zentimeter lang; die abgebrochene Spitze auf seinem Schreibtisch war keine zehn Zentimeter lang.
Grey fragte sich stirnrunzelnd, woher in aller Welt er das Bruchstück hatte. Es war tatsächlich so, dass er die Angewohnheit hatte, sich unbewusst Dinge in die Taschen zu stecken, genau wie er oft kleine Gegenstände ergriff und in den Fingern hin und her drehte, während er sich mit jemandem unterhielt. In der Folge kam er oft mit der Beute seiner unfreiwilligen Kleptomanie nach Hause und war dann gezwungen, die Gegenstände durch Tom zurückbringen zu lassen.
Tom unterzog einen kleinen Gegenstand, der aussah wie ein Kiesel, eingehender Betrachtung, erkannte, dass es ein Stück Zucker aus dem Balboa war und aß es - immer sparsam - auf, bevor er das nächste Objekt aus einer Handvoll zerknülltem Papier zog.
»Also, der gehört Lord Melton«, sagte er und hielt einen Freimaurerring hoch. »Ich habe ihn schon an seiner Hand gesehen. Habt Ihr ihn heute getroffen?«
»Nein, gestern.« Er trat zu Tom, um ihm über die Schulter zu blicken. »Ihr habt Recht, es ist Meltons Ring. Einer der Dienstboten kann ihn zu ihm nach Hause bringen. Oh - und
das hier behalte ich. Den Rest könnt Ihr verbrennen.« Sein Blick war auf die zusammengefaltete Flugschrift gefallen, die er aus dem Kaffeehaus mitgenommen hatte und jetzt aus dem Papierhäufchen herauszog.
Schwacher Kaffeeduft stieg von dem Blatt auf, als er es auseinanderfaltete, und er wurde aufs Lebhafteste an Percy Wainwrights von der Hitze seines Kaffees errötetes Gesicht erinnert. Er ignorierte die leise Wärme, die bei dieser Erinnerung in ihm aufstieg, und richtete sein Augenmerk auf den Artikel über Ffoulkes.
Im Kern entsprach er dem, was Hal ihm erzählt hatte. Der prominente Anwalt Melchior Ffoulkes war von seiner Frau tot in seinem Studierzimmer aufgefunden worden, und man ging davon aus, dass er durch seine eigene Hand ums Leben gekommen war … diverse Aussagen von Bekannten des Verstorbenen, allgemeiner Schock und große Konsternation … eine gerichtliche Untersuchung war angesetzt - aber nur vage Anspielungen auf den möglichen Grund für den Selbstmord des Mannes, kein Wort von Hochverrat oder sodomitischen Verschwörungen. Auch Hauptmann Michael Bates wurde mit keinem Wort erwähnt, ganz zu schweigen von diesem anderen Kerl, von dem Hal gesprochen hatte - Otway? Bis jetzt , dachte Grey zynisch. Dann zerknüllte er das
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