Die Suende der Engel
sich noch nach einer Möglichkeit umsah, ihre Handtasche aufzuhängen, hörte sie die schleichenden Schritte.
Sie wußte nicht sofort, aus welcher Richtung sie kamen. Aber dann erkannte sie, daß jemand draußen vor den Fenstern war, suchend und spähend vor jedem einzelnen Fenster innehielt. Das Tappen kam näher. Tina starrte hinauf, mit weitaufgerissenen Augen und jäh ausgedörrtem Mund. Oben tauchte ein Schatten auf. Mehr konnte sie durch das Milchglas nicht erkennen, mehr vermochte der fremde Beobachter auch von ihr nicht zu sehen. Aber zweifellos hatte er gerade herausgefunden, wo sie sich aufhielt.
Er kauerte sich nieder. Durch den schmalen Spalt am oberen geöffneten Fensterrand konnte Tina sein unterdrücktes Atmen hören.
Auf einmal konnte sie sich wieder bewegen. Mit zitternden
Fingern drehte sie an dem Türschloß herum. Es bewegte sich nicht, irgend etwas klemmte, oder sie machte etwas falsch in ihrer Fahrigkeit. Sie rüttelte an der Tür, auf einmal völlig aufgelöst in ihrer Panik.
»Mario!« Ihre Stimme klang schrill. »Wo bist du?«
Der Schatten vor dem Fenster entfernte sich eilig. Tina versuchte, langsam und tief durchzuatmen. Es hatte keinen Sinn, zu schreien und wie verrückt an der Tür herumzurütteln. Sie drehte noch einmal am Schloß. Die Tür öffnete sich ohne Probleme.
Tina stürzte durch den Waschraum und stieß beinahe mit einer anderen Frau zusammen, die gerade eingetreten war. Sie schaute verwundert auf das aufgelöste Mädchen, das wie ein Blitz an ihr vorüberjagte.
Immer zwei Stufen auf einmal nehmend, rannte Tina die Treppe hinauf, bezähmte sich dann und lief etwas langsamer durch das Restaurant hinaus ins Freie. Sie entdeckte Mario ein kleines Stück weiter an der Tankstelle; er hatte gerade den Schlauch in die Tanköffnung gehängt und ließ Benzin einlaufen.
»Mario, Gott sei Dank, daß du da bist!« Sie griff aufgeregt nach seiner Hand.
Mario sah sie erstaunt an. »Wo soll ich denn sein?« Er strich ihr eine Haarsträhne aus dem Gesicht. »Denkst du, ich fahre ohne dich weiter?«
»Da war ein Mann vor dem Fenster! Er hat versucht, reinzuschauen!«
»Vor welchem Fenster?«
»An der Toilette. Er hat ganz laut geatmet und versucht reinzuschauen!«
»Soll ich nachsehen? Vielleicht drückt er sich da noch herum.«
»Nein. Er ist bestimmt weg. Ich habe laut geschrien, das hat ihn erschreckt.«
Auf einmal kam sich Tina etwas albern vor. In dem Keller war es unheimlich gewesen, aber hier draußen liefen Leute herum, standen an den Tanksäulen an, Kinder spielten, zwei Hunde bellten einander zornig an. In den Wiesen zirpten Grillen. Was hatte sie so aufgeregt? Irgendein Spanner, der sich vermutlich ständig an den Toilettenfenstern von Autobahnraststätten aufhielt und Frauen erschreckte, dabei aber sicher harmlos war.
»Vielleicht war es der Kerl, der dich so angestarrt hat«, meinte Mario. Er sah sich suchend um. »Hier scheint er nirgends zu sein.«
»Ach, vergiß es. Es spielt ja keine Rolle, wer es war. Ich hab’ mich erschreckt, das ist alles. Laß uns weiterfahren.«
Mario bezahlte, dann stiegen sie ein und rollten wieder auf die Autobahn. Tina beschloß gerade, das unselige Vorkommnis endgültig zu vergessen, da sagte Mario plötzlich: »Ein wenig provozierst du derartige Situationen natürlich auch.«
Tina sah ihn an. »Wie bitte?«
Er wandte seinen Blick nicht von der Straße. »Ich habe dich noch nie in einem so kurzen Rock gesehen wie heute!«
Tina war fassungslos. »Entschuldige bitte, es ist Sommer! Wir verreisen! Was ist denn da einzuwenden gegen einen kurzen Jeansrock?«
Endlich schaute er sie an, lächelte. »Kleines, reg dich nicht gleich so auf! Ich habe doch nur gesagt...«
»Du hast gesagt, ich provoziere so etwas. Du hast versucht, mir die Schuld zuzuschieben.«
»Von Schuld war doch gar nicht die Rede. Es gibt Männer, für die ist ein kurzer Rock eben eine eindeutige Aufforderung. Das wollte ich dir nur erklären.«
»Du hast von Provokation gesprochen«, beharrte Tina,
»und das bedeutet, daß du mir zumindest einen Teil der Schuld gibst.«
Mario verdrehte die Augen. »Das wollte ich nicht. Ich habe mich vielleicht ungeschickt ausgedrückt.«
»Allerdings«, sagte Tina verstimmt.
Mario schwieg. Schließlich fragte er leichthin: »Was hast du eigentlich mit deinem Mund gemacht?«
»Mit meinem Mund?« Sie hatte den Lippenstift ganz vergessen und wußte nicht sofort, was Mario meinte. Unsicher berührte sie ihre Lippen. »Ist
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