Die Suende der Engel
einer Raststätte, aber Tina hatte inzwischen solchen Hunger, daß ihr das völlig egal war. Seit dem Frühstück hatten sie nur einmal gerastet - auf der Höhe von Frankfurt, ebenfalls an einer Tankstelle -, und jeder hatte zwei trockene Sandwiches mit
einem nach Plastik schmeckenden Käse darauf verzehrt. Dieser Rasthof nun sah zumindest recht einladend aus. Es hielten sich erstaunlich wenig Menschen dort auf.
Tina und Mario setzten sich an einen Ecktisch und bestellten jeder das gleiche Nudelgericht. Tina wollte dazu ein Glas Weißwein trinken, Mario als Autofahrer nur Mineralwasser. Es duftete durchaus verlockend aus der Küche, und draußen verschwammen die Konturen des Tages in den sanften, graublauen Schleiern der Dämmerung. Eine friedliche, etwas schläfrige Stimmung senkte sich über Tina. Sie betrachtete Mario und dachte, wie schön es doch war, daß sie ihn kennengelernt hatte und daß sie nun zusammen verreisen konnten. Über den Tisch hinweg griff sie nach seiner Hand. »Ich freue mich auf diese Ferien, Mario«, sagte sie leise.
Er hielt ihre Finger fest. »Ich freue mich auch!« Auch er schien sich etwas zu entspannen. Seine Hände fühlten sich angenehm kühl an.
Eine Kellnerin brachte die Getränke. Für einen Moment löste Tina ihren Blick von Marios Gesicht. Dabei entdeckte sie einen Mann, der schräg hinter Mario saß. Er trug einen zu engen braunen Rollkragenpullover aus Kunstfaser und hatte fettige Haare. Er starrte Tina unverwandt an, aus dunklen Augen, die so schmal waren, daß sie asiatisch anmuteten.
Tina schaute zur Seite, aber sie spürte den Blick des Fremden auf sich gerichtet. Sie konnte nicht anders, als rasch noch einmal hinzusehen. Es hatte sich nichts geändert, er fixierte sie noch immer. Es wirkte, als lauerte er auf eine Beute.
»Mario«, flüsterte sie, »dreh dich nachher mal unauffällig um. Da sitzt einer, der glotzt mich an, als hätte er noch nie eine Frau gesehen!«
Natürlich drehte sich Mario weder nachher noch unauffällig
um, sondern sofort und unübersehbar. Den Fremden irritierte das nicht. Er wandte keine Sekunde seinen Blick von Tina.
»Möchtest du, daß wir uns woanders hinsetzen?« fragte Mario.
Tina schüttelte den Kopf. »Unsinn. Aber er wirkt ein bißchen verrückt, oder?«
»Ich kann ihn ja verstehen.« Mario lächelte. »Du siehst sehr hübsch aus, Tina.«
Tina wurde einer Antwort enthoben, weil das Essen kam. Die Nudeln mit der fertigen, nur angerührten Käsesoße schmeckten nicht besonders aufregend, aber Tina aß, als wäre sie am Verhungern.
»Was meinst du«, fragte sie, als sie fertig war und sich erleichtert und gesättigt zurücklehnte, »wann werden wir morgen ankommen?«
»Im Laufe der Nacht«, antwortete Mario, »du wirst jetzt einfach schlafen im Auto, und wenn du aufwachst, sind wir schon da.«
»Okay.« Tina war einverstanden. Sie war nicht viel Alkohol gewöhnt, und das eine Glas Wein hatte bereits ausgereicht, sie sehr milde und sanft zu stimmen. Es machte ihr nichts mehr aus, daß Mario ohne Unterbrechung bis nach Nizza fahren wollte. Sie verstand gar nicht mehr, weshalb sie sich deswegen überhaupt geärgert hatte.
Der unheimliche Fremde hatte einen Salat gegessen und ein Bier getrunken. Er legte sein Geld abgezählt neben den Teller und stand auf. Er starrte Tina an... Sie blickte zur Seite.
Nachdem Mario bezahlt hatte, beschloß Tina, die Toiletten aufzusuchen. Mario wollte schon hinausgehen und das Auto auftanken. Tina mußte zwei Treppen hinunter und durch einen langen dunklen Gang gehen, in dem ihre
Schritte widerhallten, ehe sie die Damentoilette erreichte. Diese lagen, vom Restaurant aus betrachtet, im Keller; durch die Hanglage des Gebäudes befanden sich die Fenster jedoch nach dieser anderen Seite des Hauses hin knapp über den Erdboden.
Es war niemand da. Tina trödelte ein wenig in dem großen Waschraum herum, kämmte sich ausgiebig die Haare und malte sich die Lippen dunkelrot an. Dana hatte sie zum Kauf des Lippenstiftes überredet.
»Bei diesem Mario mußt du deutliche Signale setzen«, hatte sie gesagt, »bei diesem blaßrosa Zeug, das du immer benutzt, wird das nie etwas!«
Die Wirkung war nicht schlecht, fand Tina. Sie sah mit dem tiefroten Mund deutlich älter und ein wenig aufreizend aus. Ihrem Vater hätte das nicht gefallen, aber sie war gespannt, wie Mario darauf reagieren würde.
Sie schaute in jede Toilettenkabine, bis sie die ausfindig gemacht hatte, die ihr am saubersten schien. Während sie
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