Die Suende der Engel
ganz ins Zimmer, schloß die Tür hinter sich. »Maximilian Beerbaum ist verschwunden. Ohne Abmeldung.«
Echinger, der zuerst nur darauf erpicht gewesen war, die unwillkommene Störung rasch zu beenden, war von einer Sekunde zur nächsten voll gespannter Aufmerksamkeit. »Seit wann?«
»Er war schon beim Frühstück nicht anwesend. Und auch bis jetzt hat ihn niemand bei irgendeiner Gelegenheit gesehen.«
Echinger hatte, wie meist, am gemeinsamen Frühstück nicht teilgenommen, sondern seit dem frühen Morgen gearbeitet. Er runzelte die Stirn. »Versäumt er sonst nie das Frühstück?«
»Doch. Aber heute fand gleich danach eine Gesprächsgruppe
statt, an der er hätte teilnehmen sollen. Da hat er noch nie gefehlt. Nur heute.«
»Waren Sie in seinem Zimmer?«
Rosenberg nickte. »Natürlich. Da ist er nicht.«
Echinger sah auf seine Uhr. »Um elf hat er Stunde bei mir. Vielleicht wollte er bis dahin spazierengehen und hat die Meldung einfach vergessen. Dann müßte er bis elf zurück sein - denn das vergißt er bestimmt nicht.«
»Er hat auch noch nie vergessen, sich abzumelden«, gab Rosenberg zu bedenken, »schon weil er weiß, was davon abhängt.«
Die beiden Männer sahen einander an. »Wenn er zu meiner Stunde nicht erscheint«, sagte Echinger, »sehen wir seine Sachen durch. Ob etwas fehlt.«
»Wir müßten das dann heute noch melden«, sagte Rosenberg.
Echinger stand auf, warf seinen Kugelschreiber auf den Tisch. »Ich kann mir nicht vorstellen, daß er abgehauen ist! Er wäre verrückt! Er kommt in knapp acht Wochen raus. Was sind denn acht Wochen? Die kann er doch, weiß Gott, abwarten!«
»Er wirkte sehr angespannt auf mich in den letzten Tagen. Irgend etwas belastet ihn.«
»Die Mutter«, murmelte Echinger, »sie hat sich nach England abgesetzt, vermutlich zu dem Liebhaber von einst. Und sein Bruder ist, angeblich allein, in die Provence gefahren«
Rosenberg kannte den Fall Beerbaum genau.
»Sehr kritische Faktoren«, meinte er.
»Wenn er weg ist...« Echinger überlegte. »Wenn er weg ist... wohin will er dann?«
»Zu seiner Mutter?«
»Irgendwie glaube ich das nicht.«
»Er könnte vorhaben, sie zu einer Rückkehr zum Vater zu bewegen.«
Echinger schüttelte den Kopf. »Ich habe mich jetzt sechs Jahre mit ihm beschäftigt. Ich müßte mich sehr täuschen, wenn...«
»Was?«
»Ich glaube nicht, daß er sich in die Angelegenheiten seiner Eltern mischen wird. Seine Mutter hat nicht mehr die elementare Bedeutung für ihn, die sie einmal hatte. Er ist sicher nicht begeistert, daß sie sich erneut Andrew Davies zugewandt hat, aber er würde sich da nicht engagieren.«
»Hm.« Rosenberg war der Ansicht, daß man diese Dinge nie genau wissen konnte. »Sie sind sein Arzt«, sagte er. »Sie können das besser beurteilen als ich.«
Echinger kam hinter seinem Schreibtisch hervor, ging zum Fenster, das halb offen stand. Zu der frühen Stunde herrschte bereits eine ungewöhnlich drückende Schwüle draußen. Sicher würde es am Nachmittag ein Gewitter geben.
»Sein Bruder und er«, sagte er langsam, »haben eine ungewöhnlich starke Bindung.«
»Nicht zu ungewöhnlich - bei Zwillingen.«
»Ja, es ist ein Phänomen mit Zwillingen, nicht? Dieser geheimnisvolle, unsichtbare, nie abreißende Kontakt zwischen ihnen. Wir finden das sehr häufig, dennoch scheint es im Fall Beerbaum äußerst intensiv. Die beiden befinden sich in einem ständigen Zwiegespräch, über viele Kilometer und monatelange Trennungen hinweg. Sie wissen über Gefühle und Gedanken des anderen Bescheid. Sie kennen gegenseitig ihre Ängste, Träume, Hoffnungen. Manchmal ist es, als wären sie ein Mensch.«
»Es gibt einen entscheidenden Unterschied«, erinnerte Rosenberg. »Maximilian wurde krank. Mario ist gesund.«
»Ja«, sagte Echinger, »das ist der Unterschied.« Er wandte sich vom Fenster ab, sah Rosenberg an. »Wir machen es wie besprochen. Wir warten bis elf Uhr. Dann durchsuchen wir sein Zimmer.«
»Und die Polizei?«
»Später«, sagte Echinger gereizt, »wir müssen ja nicht gleich alle Pferde scheu machen. Wenn er heute abend nicht da ist...« Er sprach den Satz nicht zu Ende. Rosenberg wußte: Wenn der Fall Beerbaum scheiterte, bedeutete das eine persönliche Niederlage für Professor Echinger. Den psychischen Zustand des jungen Mannes falsch eingeschätzt zu haben, würde sich der erfahrene Analytiker nie verzeihen.
»Dana, bist du es?« Karens Stimme klang fremd, heiser und mühsam. Sie drang aus
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