Die Suende der Engel
auf den Boden, legte sich wieder in die Kissen und schloß die Augen. »Ich hab’ das Gefühl, jeden Moment zerspringt mein Kopf«, murmelte sie. »Wann willst du los?«
»Im Lauf des Tages. Ich ziehe mich jetzt erst mal an.« Dana ging zur Tür, blieb aber dort noch einmal stehen. »Ich kann dich doch alleine lassen Mami?«
Karen lag jetzt da wie eine Tote, wachsweiß im Gesicht, die Augen fest geschlossen. Ihre Lippen bewegten sich nur langsam. »Natürlich. Ich komme zurecht. Fahr du nur.«
Dana zögerte noch einen Moment, dann verließ sie das Zimmer. Sie hatte ein schlechtes Gewissen, aber jahrelange Erfahrung hatte sie gelehrt, daß sie ihrer Mutter nicht helfen konnte. Auf irgendeine Weise mußte Karen aus eigener Kraft auf die Füße kommen.
Bildete er es sich ein, oder war sie wirklich schrecklich unordentlich? Sie waren erst eineinhalb Tage hier in Duverelle, aber sie hatte bereits ein ziemliches Chaos verbreitet. Zwei Paar Schuhe flogen im Flur herum und forderten förmlich dazu auf, über sie zu stolpern. Im Bad verbauten ihre Sachen - Kosmetikartikel aus dem Body-Shop - die gesamte Ablage unter dem Spiegel. Ihre gebrauchten Handtücher hängte sie grundsätzlich nicht an den Haken zurück, sondern knäulte sie in irgendeine Ecke. Wenn sie sich in der Küche ein Brot schmierte, ließ sie Messer und Teller einfach auf dem Tisch stehen; oft vergaß sie sogar, die Butter zurück in den Kühlschrank zu stellen. Eines ihrer T-Shirts lag auf dem Sofa im Wohnzimmer, ein Wollpullover hatte die Nacht einsam draußen im Liegestuhl verbracht und war schwer gewesen von der Nässe des Taus am nächsten Morgen.
Und ich war überzeugt, sie sei sehr sorgsam, dachte Mario.
Er fragte sich, warum ihn die Entdeckung, daß sie schlampig war, so wütend machte. Er war nie besonders fanatisch gewesen, was Ordnung betraf, weshalb sollte sich das plötzlich geändert haben? Was ihm angst machte, war der Gedanke, daß er in Wahrheit nach einem Grund suchte, wütend auf sie sein zu dürfen. Er brauchte ein Ventil, brauchte eine Gelegenheit, zu explodieren, sich Luft zu schaffen. Er hatte heftige Aggressionen gegen sie, die er entweder loswerden mußte, oder an denen er ersticken würde.
Das Bild, das er sich von ihr gemacht hatte, war in der vergangenen Nacht zerbrochen, nachdem es bereits von zahlreichen Rissen verunziert worden war. Was hatte er in ihr gesehen? Ein Märchengeschöpf, eine überirdische Fee, einen Engel? Er hatte sie auf ein Podest gestellt, auf dem sie überhaupt nicht stehen wollte. Das hatte sich schon auf der Reise bemerkbar gemacht: der Minirock, der feuerrote Lippenstift. Es hatte seine Übelkeit erregt, zu beobachten, wie die Kerle ihr nachstarrten. Und dann, in der vergangenen Nacht: Sie hätte sich ihm auf der Stelle hingegeben, wenn er gewollt hätte. Ohne Scham, ohne Scheu. Hatte sie von Anfang an darauf spekuliert? Hatte sie deshalb unbedingt mit ihm verreisen wollen?
Nein-er fuhr sich mit beiden Händen über die Stirn, als könne er so die quälenden Gedanken vertreiben -, er durfte nicht das Schlechteste von ihr denken. Sie war schwach geworden in der letzten Nacht, so wie auch er fast schwach geworden wäre. Die Schuld lag nicht allein bei ihr.
Er bemühte sich, an etwas anderes zu denken, räumte ihre verstreuten Sachen auf und stellte eine Liste der Dinge zusammen, die sie kaufen mußten. Er goß die Blumen und reinigte das Waschbecken im Bad von Tinas Haaren. Seine Wut verrauchte so unvermittelt, wie sie gekommen war, aber er wußte, daß sie sich keineswegs aufgelöst hatte. Sie konnte sich jeden Moment wieder zusammenballen und sich als unberechenbare Kraft in ihm aufbäumen.
Durch die Küche ging er hinaus auf die rückwärtige Terrasse. Hier war es kühler und schattiger als im vorderen Garten. Die Steinfliesen auf dem Küchenfußboden setzten sich draußen fort und vermittelten den Eindruck eines weiteren luftigen Zimmers. Terrakottakrüge, mit bunten Blumen bepflanzt, standen hier herum, und zwischen
den Steinen wuchs das Moos. Doch trotz der zwei großen Kirschbäume, die die Sonnenstrahlen fernhielten, zeigte das Thermometer an der Hauswand achtundzwanzig Grad an.
Tina lag in einem Liegestuhl, in ein lächerliches Nichts von einem Bikini gekleidet. Mario bemühte sich, seinen Blick nicht unterhalb ihres Kinns festzumachen. Sie las, ihre Miene war angestrengt und konzentriert. Sie zuckte zusammen, als Mario plötzlich neben ihr stand. Er lächelte, und sie entspannte
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