Die Suende der Engel
diese freche Schlampe beleidigt! War mit ihm umgesprungen, als sei er das letzte Stück Dreck, hatte sich seinen Befehlen widersetzt... Er hatte das Steuer herumgerissen und war zurückgerast wie der Teufel.
Der Teufel...
Dana drehte sich um und rannte; rannte, so schnell sie konnte, und wußte, sie rannte um ihr Leben.
An diesem Abend war es zum erstenmal so, wie es die ganze Zeit über hätte sein sollen. Sie waren zum Essen in einen kleinen Ort bei Grasse gefahren, durch einen dramatisch flammenden Sonnenuntergang, durch die geöffneten Wagenfenster gestreichelt von lavendelduftender, samtweicher Luft. Die wildromantische Landschaft war von einer Schönheit, die Tina mit allem versöhnte: mit dem Ärger und der Unruhe der vergangenen Tage und Nächte, mit der Tatsache, daß sie sich so weit vom Meer entfernt befanden, mit... ja, im Grund wäre ihr gar nichts weiter eingefallen, denn auf einmal schienen ihr alle diese Dinge Lappalien zu sein, kaum wert, erwähnt zu werden. Seit Marios Geständnis hatte sich alles verändert. Die beunruhigenden Einzelheiten fügten sich zu einem logischen Bild.
Mario führte sie in ein Restaurant, in dem er, wie er erzählte, früher oft mit seinen Eltern gewesen war. An einfachen Holztischen konnte man in einem Gärtchen sitzen, das von einer niedrigen Steinmauer umgrenzt wurde. Zwischen Obstbäumen und Zypressen waren lange Schnüre mit Lampions aufgehängt. Draußen auf der Straße pilgerten Touristen entlang, in Shorts und T-Shirts, Kameras vor den Bäuchen baumelnd, Eiswaffeln in den Händen. Kinder schrien und lachten, und vereinzelt klangen aus dem bunten Sprachengewirr auch deutsche Wortfetzen. Aus der Küche roch es nach warmem Brot und Knoblauch, nach gebratenem Fleisch und Salbei. Mario hatte einen halben Liter Rotwein bestellt, den der Wirt in einer schönen, alten Karaffe servierte; unaufgefordert stellte er einen Krug mit klarem Wasser, einen Korb mit Baguettestücken und eine Schale mit Kräuterquark dazu.
. Tina atmete tief und entspannt. »Es ist wunderschön hier!« Sie nahm einen Schluck Wein. »Wir werden eine richtig gute Zeit haben, das weiß ich.«
Mario lächelte. Er wirkte ausgeglichen an diesem Abend, fand Tina, und er sah südländischer aus denn je. Er paßte hervorragend in die Gegend. In den letzten beiden Tagen hatte seine Haut etwas Farbe bekommen; mit den schwarzen Haaren, den dunklen Augen und dem lässigen, weißen Hemd mit den hochgekrempelten Armen wirkte er wie ein junger Franzose.
Selbst Dana müßte jetzt zugeben, daß er wirklich gut aussieht, dachte Tina stolz.
Seine Erklärung wegen des verschwundenen Telefonapparates war ihr eigenartig vorgekommen, aber seitdem sie wußte, er durchlitt gerade einen Tablettenentzug, relativierte sich jede Eigenartigkeit. Menschen in seinem Zustand, machte sich Tina klar, handelten nach einer eigenen, nur ihnen selbst vertrauten Logik. Widersprüchlichkeiten, Ungereimtheiten gehörten unweigerlich dazu.
Er habe Angst gehabt, hatte er erklärt, seine Mutter könne ihn erreichen. An jenem ersten Vormittag, als das Telefon ständig klingelte und Tina überzeugt gewesen sei, ihr Vater versuche anzurufen, da habe er vermutet, es könne sich nur um seine Mutter handeln.
»Meine Mutter ist in England, verstehst du? Kann sein, sie hat herausgefunden, daß ich hier bin, und versucht jetzt, alles zu erklären.«
Verwirrt hatte Tina zurückgefragt: »In England? Was tut sie denn da? Und was soll sie erklären?«
Ein Schatten glitt über sein Gesicht. »Es... fällt mir schwer, darüber zu sprechen. Sei nicht böse, bitte. Ich werde dir alles erklären. Laß mir etwas Zeit!«
Das Telefon befinde sich im Wohnzimmerschrank, fügte er hinzu, und selbstverständlich könne es Tina jederzeit anschließen und telefonieren, mit wem sie wolle.
»Ich will ja gar nicht telefonieren. Ich habe mich nur gewundert...«
Sie zerbrach sich den Kopf, welches Problem er mit seiner Mutter haben könnte. Einerseits stand ihr Bild neben seinem Bett, andererseits stöpselte er das Telefon aus vor Angst, sie könnte ihn erreichen. Und er hatte ihr von Anfang an nichts von seiner Beziehung zu Tina erzählen wollen. Ein Mensch wurde nicht so einfach tablettenabhängig. Lag die Ursache des Übels in seiner Kindheit, in der Person seiner Mutter? Tina erinnerte sich an das Photo und daran, daß sie gedacht hatte, dies sei eine komplizierte Frau.
»Laß mir Zeit«, hatte er gebeten. Tina kam sich sehr erwachsen vor, weil sie
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