Die Suende der Engel
Sehfehler stellte das einzige Merkmal dar, das ein Beobachter im Gedächtnis hätte behalten können. Er trug Jeans und einen dunkelblauen Rolli und fuhr einen schmutzig-weißen altertümlichen Peugeot mit französischem Nummernschild.
Eine ganze Weile hatte er nichts gesagt, bis auf die erste Frage, die er sofort gestellt hatte, als er anhielt. »Wo möchten Sie denn hin?« Ein fast akzentfreies Deutsch.
Sie hatte ihm ihr Ziel genannt, und er hatte gelacht. »Ganz so weit fahre ich nicht. Aber ein Stück weit kann ich Sie mitnehmen.«
Nun wandte er plötzlich den Kopf und sah sie an. »Scheußliches Wetter, wie?«
Der Regen war noch stärker geworden, die Scheibenwischer des Wagens rasten im Höchsttempo hin und her. Die Straße schlängelte sich zwischen Weinbergen entlang; die Reben bogen sich unter der Wucht des Regens.
»Ja«, stimmte Dana zu, »wirklich scheußlich. Dabei sah es am frühen Morgen noch nach einem wunderschönen Tag aus.«
»Das ändert sich oft schneller, als man denkt«, sagte der Mann. Sein Blick wanderte zu Danas nackten Knien und saugte sich dort fest. »Sie sind ziemlich naß geworden!«
Dana widerstand dem unwillkürlichen Drang, den
Saum ihres Rocks weiter nach unten zu ziehen. »Na ja, glücklicherweise haben Sie ja gehalten«, meinte sie etwas beklommen.
»Stimmt. Welch ein Glück.« Er schaute wieder auf die Straße, aber nur einen kurzen Moment, dann betrachtete er erneut seinen Fahrgast und blieb mit seinem Blick jetzt an den Brüsten kleben. Dana war sich bewußt, daß ihr nasses T-Shirt aufreizender wirken muße, als wenn sie gar nichts angehabt hätte. Nun mußte sie dem Bedürfnis Widerstand leisten, die Arme vor der Brust zu verschränken. Sie begann sich sehr ungemütlich zu fühlen.
»Sie sprechen sehr gut Deutsch«, sagte sie, »obwohl Sie doch Franzose sind, oder?«
»Ich bin ein Waisenkind. Ich wuchs in verschiedenen Pflegefamilien auf. Eine lebte bei Straßburg. Gebürtige Deutsche.«
»Ich komme aus Hamburg.«
»Dann sind Sie aber schon lange unterwegs.« Er hatte sich kurz der Straße zugewandt, schaute nun aber schon wieder zu Dana hin. »Was sagen denn Ihre Eltern dazu?«
»Wozu?«
»Daß Sie so in der Gegend herumtrampen. Das ist nicht ganz ungefährlich.«
»Ich kann schon auf mich aufpassen«, entgegnete Dana und versuchte, besonders zuversichtlich und selbstbewußt zu klingen.
Er warf ihr einen langen, eigentümlichen Blick zu. »So?« fragte er und schien sich dann endlich wieder ganz auf die Straße zu konzentrieren.
Es ist nichts, sagte sich Dana beruhigend, er guckt ein bißchen komisch, aber das liegt an dieser Brille.
Es war ihr schon manchmal beim Trampen passiert, daß Männer anzüglich wurden, verfängliche Gesprächsthemen suchten oder ganz offen ihr Gefallen äußerten. Sie
hatte sich jedoch nie bedroht gefühlt, war immer Herrin der Lage gewesen, hatte sich - wenn ihr der betreffende Mann gefiel - auf einen Flirt eingelassen oder aber sich so lange naiv gestellt, bis der andere es aufgab, sie provozieren zu wollen. Niemals war ihr in einem fremden Auto auch nur für eine Minute unbehaglich zumute gewesen. Jetzt zum ersten Mal hatte sie ein äußerst ungutes Gefühl. Sie sagte sich, daß das an Michaels Unkerei liegen mußte. Vielleicht auch an dem Regen und daran, daß sie so müde war.
Nach einer Viertelstunde brach der Mann plötzlich erneut das Schweigen. »Sie sind wirklich ein hübsches Mädchen«, sagte er.
Dana, die, den Kopf an die Fensterscheibe gelehnt, ein wenig gedöst hatte, schreckte auf. »Was?«
»Ein wirklich hübsches Mädchen«, wiederholte er, »das wissen Sie sicher?«
»Ach, ich sehe doch heute schrecklich aus«, antwortete Dana in der schwachen Hoffnung, ihm ihre Betrachtungsweise aufdrängen zu können. »Ich habe ungekämmte Haare, verschmierte Schminke und nasse, zerdrückte Klamotten!«
Die Straße im Auge behaltend, angelte er mit dem rechten Arm nach hinten auf den Rücksitz, wo eine Anzahl Plastiktüten herumlag. Aus einer von ihnen fischte er einen Kamm, den er gleich darauf mit einer aggressiven Bewegung in Danas Schoß warf.
»Hier. Für dich«, sagte er.
Der Kamm war aus hellbraunem Plastik, jeder zweite Zinken fehlte. Ein paar Haare hingen in den verbliebenen Zähnen.
Das kann doch nicht sein Ernst sein, dachte Dana.
»Wissen Sie, ich...«, begann sie, aber der Mann unterbrach sie grob.
»Kämm deine Haare! Ich zeig’ mich nicht gern mit einer ungepflegten Frau. Du siehst völlig
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