Die Suende der Engel
diesem Wunsch so diszipliniert nachkam. Keine Fragen! Sie würde warten, bis er sich ihr von selbst öffnete.
Das Essen kam, und beide machten sich mit großem Appetit darüber her. Tina konzentrierte sich auf ihr Lammfleisch. Der Wein schenkte ihr eine behagliche Leichtigkeit.
»Was wollen wir danach machen?« fragte sie.
Mario blickte überrascht auf. »Nach dem Essen?«
»ja. Es ist ja noch früh.«
Er schaute auf seine Armbanduhr. »Es ist gleich neun!«
»Das ist früh! Oder willst du schon wieder nach Hause?«
Offenbar verdarb sie ihm gerade den Appetit, denn er legte sein Besteck zur Seite, tupfte sich mit der Papierserviette den Mund ab und nahm seufzend einen Schluck Wein. Kaum merklich hatte sich sein Gesichtsausdruck verfinstert. Um seinen schönen, weichen Mund lag ein mürrischer Zug.
»Wenn du... wenn du dich fürchtest...«, begann Tina vorsichtig.
Er unterbrach sie grob. »Wovor, zum Teufel, sollte ich mich fürchten?«
»Vor dem Ort. Den Menschen. Du sagtest, manchmal hättest du Probleme, in ein Kaufhaus zu gehen, und da dachte ich...«
Wiederum ließ er sie nicht ausreden. »Hör auf, Tina, fang bloß nicht an, die Krankenschwester zu spielen. Ich werde nervös, wenn sich jemand wie Mutter Teresa aufführt!«
»Aber ich...«
»Lieber Himmel, versuch halt einfach, mich in Ruhe zu lassen, ja?«
Tina schwieg verletzt und schob nun auch ihren Teller von sich. Mario hatte sich ein Stück Brot aus dem Korb genommen und zerbröselte es zwischen den Fingern.
»Wir können ja ein bißchen durch den Ort laufen«, schlug er schließlich vor.
»Wenn du magst«, sagte Tina steif.
Mario winkte dem Wirt. Er sah angespannt aus. Tina wußte, daß der Abend verdorben war. Es kam ihr vor, als habe jemand auf einen Schalter gedrückt und ein Licht ausgeknipst, und aus irgendeinem Grund ließ sich dieser Vorgang nicht rückgängig machen. Sie begriff nicht, womit sie Mario so verärgert hatte. Er kam ihr vor wie ein überempfindlicher, launischer Teenager im schwierigsten Alter, bei dem man jedes Wort auf die Goldwaage legen mußte. Und selbst Schweigen konnte verkehrt sein.
Michael wußte immer noch nicht, wie es Karen Graph gelungen war, ihn nach München zu schleppen. Sie hatten sich auf dem Hamburger Flughafen am Informationsschalter getroffen - Erkennungszeichen: ein zusammengerolltes Hamburger Abendblatt unter dem Arm -, und Michael sah seine schlimmsten Befürchtungen von der Wirklichkeit übertroffen. Die Frau war entsetzlich. Sie trug eine hellgrüne Sommerhose, deren Beine sie unten
umgeschlagen hatte, dazu ein enges, gelbes T-Shirt mit dem aufgedruckten Frauenzeichen, dem Kreis mit dem Kreuz. Um ihren Hals wand sich eine dünne Lederschnur mit ein paar aufgefädelten Perlen; eine Art Indianerschmuck, dachte Michael gereizt. Karens nackte Füße steckten in ziemlich schmutzigen Turnschuhen. Sie hatte sich eine schwarze, riesige Tasche über die Schultern gehängt und schien unter deren Gewicht fast zusammenzubrechen. Über dem Arm trug sie eine Regenjacke in Neongrün. Das schlimmste, fand Michael, waren ihre Haare: Stoppelkurz geschoren und in einem fleckigen Rostrot gefärbt, erinnerten sie an eine Wiese nach einem Flächenbrand. Und warum hatte die Haut dieser Frau eine so bleiche, ungesunde Farbe? Michael dachte an die solariumgebräunte Dana. Die takelte sich zwar immer zu sehr auf und war keineswegs sein Fall, aber sie hatte Geschmack, was Farben anging, und wirkte zumindest gepflegt. Insgeheim nannte sich Michael einen kompletten Idioten, daß er sich zu diesem Abenteuer hatte überreden lassen.
Karen grinste bei seinem Anblick ironisch. »Sie sehen genauso aus, wie ich Sie mir vorgestellt habe! Tragen Sie immer Anzug und Krawatte?«
»Wenn es mir angemessen erscheint«, erwiderte Michael reserviert, und sie kicherte, als habe er einen Witz gemacht.
Beide wollten sie ihr Gepäck nicht aufgeben, sondern mit in die Maschine nehmen, und Michael bestand darauf, Karens unförmige Tasche zu tragen. Sie schien ihm ungewöhnlich schwer, und er fragte sich, was Karen alles eingepackt haben mochte. Sie erriet seine Gedanken. »Falls ich ein Gespräch aufzeichnen möchte, habe ich meinen Radiorecorder mitgenommen. Er ist uralt und leider riesig.«
»Halten Sie das wirklich für nötig?«
»Kein guter Journalist recherchiert ohne Aufzeichnungsgerät. Mein kleines Bandgerät funktioniert leider nicht mehr, also blieb nur das Ungetüm.«
Sie hatten einen längeren Aufenthalt bei der
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