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Die Suende der Engel

Die Suende der Engel

Titel: Die Suende der Engel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Charlotte Link
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auftauchte. Konnte er einfach hineinschneien und »Hallo, hier bin ich!« sagen? Sein Bruder wäre entsetzt und vielleicht wütend, das Mädchen - so es ein solches gab - bekäme den Schreck seines Lebens.
    Zudem sah er auch noch ziemlich anstößig aus; einer der Bauern stellte alte Möbel zum Verkauf, und in einem silbergerahmten Spiegel konnte sich Maximilian kurz mustern. Er fühlte sich ziemlich entmutigt. Die grauen Schatten
eines stoppeligen Drei-Tage-Barts bedeckten sein Gesicht. Die Augen waren gerötet vor Müdigkeit. Er wirkte schmutzig und zerknittert, hungrig und ausgelaugt. Sowie er die Hände aus den Taschen seiner Lederjacke zog, wurde deutlich, daß sie heftig zitterten. Er fand, daß er aussah wie ein entsprungener Sträfling, und erst als er diesen Gedanken zu Ende gedacht hatte, fiel ihm auf, daß er in gewisser Weise genau das war.
    Als er am Ferienhaus anlangte, überkam ihn ein wehmütiges und zugleich friedvolles Gefühl. Das Haus aus weißgrauen Steinen, das da im Schatten hoher Kirschbäume träumte, war ihm vertraut seit frühester Kindheit. Es stand für Familienferien weitab von Alltagssorgen und Problemen, für heitere, lange, heiße Sommertage, Grillabende im Garten, Streifzüge durch die Lavendelfelder und stundenlanges Träumen in den Wiesen voller Mohn, für lange Gespräche und sorgloses Gelächter. Es stand für alles, was hätte sein können, was ihr Leben hätte ausmachen können. Für alles, was sie verloren hatten.
    Es lag friedlich und wie schlafend in der Morgensonne, die sich in den nach Osten gerichteten kleinen Fensterscheiben blitzend spiegelte. Der taubenetzte Garten schien eine blühende Oase. Auf der vorderen Veranda standen zwei Liegestühle, darauf lagen noch die weißgelb gestreiften Sitzkissen, über der Lehne des einen hing ein blaues T-Shirt. Ein Bild unbekümmerter Ferienfreude. Nichts deutete auf das geringste Problem hin.
    Und doch verstärkte sich plötzlich das Gefühl der Furcht und Beklemmung, das Maximilian die ganze Reise überhaupt hatte antreten lassen. Er schaute sich um, suchte nach etwas, das seine Sorge handfest untermauern würde, einen Hinweis darauf, daß etwas nicht in Ordnung war. Überrascht stellte er dabei plötzlich fest, daß kein Auto in der Einfahrt parkte.

    Er umrundete das Grundstück, um zu sehen, ob Mario seinen Wagen vielleicht anderswo abgestellt hatte, aber er konnte das Fahrzeug an keiner Stelle entdecken. Das erstaunte ihn sehr, denn er war überzeugt gewesen, daß Mario die Reise mit dem Auto angetreten hatte. Hatte er sich auf einmal für eine Zugfahrt entschieden? Maximilian schüttelte den Kopf. Sie waren beide ein wenig klaustrophobisch veranlagt, fuhren nicht gerne Zug. Sein Bruder noch weniger als er. Freiwillig würde er es nicht tun.
    Wieso fehlte das Auto zu dieser frühen Stunde? Vielleicht war Mario ins Dorf gefahren? Bei dem kurzen Weg etwas absurd, aber man konnte nie wissen. Vielleicht fehlte irgend etwas zum Frühstück. In diesem Fall mußte er jeden Augenblick zurückkommen. Warum glaubte er nur nicht an diese Theorie?
    Zögernd öffnete er das niedrige Gartentürchen. Zwischen den unregelmäßig geformten Steinplatten, die zur Haustür führten, wucherte das Unkraut. Der Mann, den sie für die Wartung des Grundstücks bezahlten, schien sich nicht gerade zu überschlagen vor Eifer. Aber wer sollte es ihm übelnehmen, wofür sollte er sich abstrampeln? Wie lange hatte sich keiner von der Familie blicken lassen!
    Maximilian spähte durch ein kleines Fenster neben der Tür in den Flur. An der Garderobe hingen zwei leichte Anoraks, ein Paar Schuhe - eindeutig Damenschuhe - lag hingepfeffert unter dem Tisch. Er hatte recht gehabt. Sein Bruder war nicht allein. Er hatte ein Mädchen bei sich.
    Dicht an der Wand entlang bewegte er sich um die Ecke zum Wohnzimmerfenster, schaute auch dort hinein. Ein paar Zeitschriften auf dem Sofatisch, ein leeres Glas auf dem Fernseher. Auf dem Teppich knäulte sich Schokoladenpapier. Diese Spuren von Unordnung wiesen auf das Mädchen hin; Mario hätte nie Papier auf den Boden geworfen,
ein Glas im Wohnzimmer stehen lassen. War es gut oder schlecht, daß das Mädchen schlampig war? Zumindest gab es der Szenerie einen angenehmen Anstrich von Normalität.
    Ich werde warten, beschloß Maximilian, es ist noch sehr früh am Morgen, und ich werde einfach warten, was geschieht.
    Er entschied sich für einen Platz im Gras hinter wuchernden Rosmarinhecken. Hier konnte ihn niemand entdecken,

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