Die Suende der Engel
Miene drückte Mißbilligung aus - aber worüber? Über ihre phosphorgelben Leggings, den kreischend gelben Pullover, die roten Schuhe?
Wird heute nicht der einzige Schock sein für ihn, dachte sie.
Er stand vor ihr. »Und?« fragte er nur.
Sie seufzte. »Ich glaube, ich habe etwas«, sagte sie.
Kurz bevor die Jury ihren Urteilsspruch bekanntgab, wurde Fred Corvey ein wenig nervös. Janet konnte ihn schräg von hinten im Profil sehen und merkte, daß sich
seine Blässe vertiefte. Unruhig rutschte er auf seinem Stuhl hin und her. Das stand in krassem Gegensatz zu seinem bisherigen Verhalten an diesem Vormittag. Er hatte ein ungeheure Selbstgefälligkeit und Arroganz zur Schau getragen, eine abstoßende Siegesgewißheit. Der Staatsanwalt hatte sich tapfer geschlagen, hatte aus wenigen, unzureichenden Indizien gegen Corvey das Beste zu machen versucht. Ausdauernd ritt er auf dem plötzlichen Verschwinden des Kleinbusses herum, der zu schnell, zu plötzlich, zu vorteilhaft für den Angeklagten verschrottet und damit als Beweismittel aus dem Verkehr gezogen worden war. Den Angestellten des Schrottplatzes, der den Wagen seinerzeit in Empfang genommen hatte, nahm er hart in die Mangel, bestand darauf, ihn vereidigen zu lassen. Er warf ihm vor, von Corvey Geld dafür angenommen zu haben, daß er den Bus auf der Stelle verschwinden ließ, aber der junge Mann - ein abgebrühter, mit allen Wassern gewaschener Zeitgenosse, der kalt bis ans Herz zu bleiben schien - bestritt diesen Vorwurf energisch. Er sei in keiner Weise bestochen worden. Reiner Zufall, daß dieses Auto so rasch verschwand. Als ihn der Staatsanwalt darauf aufmerksam machte, daß ihm eine Klage wegen Meineides drohte, sollte sich seine Aussage als unwahr erweisen, zuckte er nur mit den Schultern.
Der Staatsanwalt strich weiterhin den Umstand heraus, daß sich Corvey häufig in Basildon bei jener Tante aufgehalten hatte, wofür es Zeugen aus der Nachbarschaft gab, die er einzeln aufmarschieren und aussagen ließ. Teilweise stimmten solche Besuche mit Zeiten überein, in denen Frauen verschwunden waren.
Hinzu kam der Tatort in der Nähe der kleinen Stadt. Corvey hatte jede Menge Gelegenheiten gehabt, auf seinen Streifzügen das alte Haus zu entdecken und sich zu
vergewissern, daß niemand sonst dorthin kam. Und natürlich blieb als Hauptbelastungspunkt das Geständnis - von Corvey in Anwesenheit mehrerer Polizeibeamter, nach Aufklärung über all seine Rechte, insbesondere das Aussageverweigerungsrecht, freiwillig abgelegt. Die Jury möge selbst entscheiden, für wie glaubhaft sie es hielte, daß es Corvey erst zu Beginn der Hauptverhandlung plötzlich in den Sinn gekommen sei, er habe sich unter Druck gefühlt, sei völlig durcheinander gewesen und habe in einem Zustand geistiger Umnachtung Dinge gesagt, deren Bedeutung er nicht habe überblicken können.
Der Staatsanwalt war brillant, aber Corveys Anwalt ebenfalls, und er tat so, als sei es geradezu lächerlich, was da gegen seinen Mandanten vorgebracht wurde, weil »man der Bevölkerung unbedingt einen Täter präsentieren will, um den Preis, daß ein Unschuldiger hinter Gittern landet«!
Sein Trumpf waren zwei psychiatrische Gutachter, die sich, unabhängig voneinander, in den beiden vergangenen Tagen stundenlang mit Corvey beschäftigt hatten. Zwar schränkten beide ein, für eine tiefgehende Analyse Corveys nicht genügend Zeit gehabt zu haben, bescheinigten aber dem Angeklagten eine ungewöhnliche Labilität, eine extreme Furcht vor Respektspersonen, ein schwer beschädigtes Selbstwertgefühl sowie eine Veranlagung, in kritischen und von ihm als beängstigend empfundenen Situationen schockhaft zu reagieren, unter Umständen sogar »geistigen Aussetzern« unterworfen zu sein. Hinweise auf sexuelle Abnormitäten oder einen besonderen Hang zur Gewalt wollten beide nicht bemerkt haben.
Dr. Harrold, der ältere von beiden, sagte sehr ruhig: »Würde man mich fragen, ob ich Fred Corvey der Ver übung der ihm vorgeworfenen Verbrechen für fähig halte,
müßte ich einige Zweifel anmelden. Fragt man hingegen, ob ich es für möglich erachte, daß er während der Vernehmung durch Polizeibeamte ein falsches Geständnis ablegt, würde ich antworten, daß man das keinesfalls ausschließen kann.«
Corvey machte ein Gesicht, als habe er die Last der Welt auf seinen Schultern zu tragen. Während des Resumées des Richters, in dem dieser die wichtigsten Punkte der Verteidigung und der Anklage noch einmal
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