Die Sünde des Abbé Mouret
Vater hörte, rief sie aus:
»Potztausend! Wenn das Kleine stürbe, wäre die Schwangerschaft
so gut wie nicht gewesen.«
Sie faltete die Hände mit einem Ausdruck bewundernden
Neides:
»Wie Sie sich den Mund wund geredet haben müssen, Herr Pfarrer.
Über einen halben Tag, um so wenig zu erreichen!… Sind Sie auch
ganz langsam zurückgegangen? War es nicht höllisch heiß auf dem
Weg?«
Der Abbé, der aufgestanden war, gab keine Antwort. Er wollte vom
Paradeis anfangen, Näheres wissen. Aber aus Furcht vor zu
stürmischen Fragen, einer Art Scham, die er sich selbst nicht
eingestand, verschwieg er seinen Besuch bei Jeanbernat. Er umging
jedes weitere Verhör mit der Erkundigung:
»Wo ist denn meine Schwester, ich höre sie gar nicht?«
»Kommen Sie mit, Herr Pfarrer,« sagte die Teusin lachend und
legte einen Finger auf die Lippen.
Sie traten in das anliegende Zimmer, ein ländliches Wohngemach,
beklebt mit einer grauverblaßten, großblumigen Tapete. Das Sofa und
die vier Sessel waren mit Roßhaarstoff bespannt. Auf dem Sofa, der
Länge nach ausgestreckt, schlief
Desiderata, die Arme unter dem Kopf verschränkt. Ihre Röcke waren
verschoben und ließen die Knie frei; dank der Haltung der bis zum
Ellbogen entblößten Arme zeichnete sich die Brust in kräftigen
Linien. Ihr Atem ging etwas schwer, zwischen den roten,
halbgeöffneten Lippen blitzten die Zähne.
»Es ist nicht zu glauben, wie fest sie schläft!« flüsterte die
Teusin, »nicht einmal gehört hat sie, wie Sie mich vorhin
ausgezankt haben … Sie hat guten Grund, müde zu sein. Fast bis
zum Mittag hat sie ihre Tiere gesäubert, stellen Sie sich das vor.
Nach dem Essen ist sie wie ein Bleiklotz dort hingefallen. Nicht
mehr gerührt hat sie sich.«
Der Priester betrachtete sie einen Augenblick voller
Zärtlichkeit.
»Wir müssen sie schlafen lassen, solange sie Lust hat,« sagte
er.
»Versteht sich… ewig schade ist es, daß sie so kindisch ist!
Sehen Sie nur die kräftigen Arme! Wenn ich ihr beim Anziehen helfe,
muß ich immer denken, was für eine schöne Frau sie geworden wäre.
Prächtige Neffen hätten Sie haben können, Herr Pfarrer. Finden Sie
nicht, daß sie der großen Dame aus Stein gleicht, vorn am Kornhaus
in Plassans?« Hiermit meinte sie eine auf Garben ruhende Cybele,
das Werk eines Schülers von Puget, am Giebelsims der Markthalle
ausgemeißelt. Der Abbé Mouret zog sie leise aus dem Wohnzimmer und
legte ihr ans Herz, so wenig Lärm wie möglich zu machen. Bis zum
Abend blieb es still in der Pfarre. Die Teusin kam in der Scheune
mit ihrer Wäsche zu Ende. Der Priester saß in der Tiefe des
schmalen Gartens, frommer Beschaulichkeit hingegeben, das Brevier war ihm auf die Knie gesunken,
rosig blätterte es von den Pfirsichbäumen.
Kapitel 10
Gegen sechs gab es ein plötzliches Erwachen.
Unter Gelächter wurden Türen aufgerissen und zugeworfen, und
Desiderata kam zum Vorschein mit verwirrtem Haar und noch immer
aufgekrempelten Ärmeln, sie rief:
»Sergius! Sergius!«
Als sie ihres Bruders im Garten ansichtig wurde, kam sie
angelaufen und ließ sich eine kurze Zeit zu seinen Füßen nieder,
sie bat:
»Komm doch, die Tiere ansehen!… Du hast meine Tiere noch nicht
gesehen, komm doch. Wenn du wüßtest, wie sie jetzt hübsch
sind.«
Lange ließ er sich bitten. Vor dem Viehhof scheute er sich
etwas. Als er aber Tränen in Desideratas Augen aufsteigen sah, gab
er nach. Sie warf sich ihm an den Hals mit der freudigen
Plötzlichkeit eines jungen Hundes, lachte lauter als zuvor mit noch
nassen Augen.
»Ach, du bist lieb,« stammelte sie und zog ihn mit sich davon.
»Du mußt die Hühner sehen, die Kaninchen und Tauben, meine Enten,
die frisches Wasser bekommen haben und meine Ziege, die nun ein
ebenso sauberes Zimmer hat als ich… Du mußt wissen, ich habe drei
Enten und zwei Truthennen. Komm schnell, alles sollst du
sehen.«
Desiderata stand jetzt im zweiundzwanzigsten Jahre, sie war auf
dem Land bei ihrer Amme aufgewachsen, einer Bäuerin von Sankt
Eutrope.
Ihr Hirn beschwerte kein ernsthaftes Denken
irgendwelcher Art, sie zog Lebenskräfte aus der reichen Scholle,
aus der reinen Landluft, entwickelte sich nur körperlich und wurde
zu einem schönen, frischen, weißen Tier mit rosigem Blut und fester
Haut. Es war, als sei einer Rasseeselin die Gabe des Lachens
verliehen. Trotzdem sie von morgens bis abends herumwirtschaftete,
blieben ihr die Zartheit der Gelenke, die Schlankheit der Glieder,
die ganze bürgerliche
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