Die Sünde des Abbé Mouret
in der Totenkapelle. Er wurde nicht mehr abgelenkt
von der nüchternen Fensterhelle, der Morgenfrühe, die mit der Sonne
hereinschien, dem Außenleben, den Sperlingen und Ästen, die in die
Kirche drangen durch zersprungene Scheiben. In dieser nächtlichen
Stunde war die Natur erstorben, das Dunkel behängte mit
Kreppschleiern die geweißten Mauern, die Kühle warf ihm über die
Schultern ein heilsames Büßergewand; er konnte gänzlich aufgehen in
Liebesunumschränktheit, ohne daß der Mutwillen eines Tagesstrahls,
die Liebkosung eines Windhauches oder eines Duftes, das Auffunkeln
eines Käferflügels ihn seiner Liebesfreude entreißen konnte. Seine
Morgenmesse hatte ihm nie so übermenschliche Beglückungen bescheren
können wie die abendlichen Gebete.
Mit zuckenden Lippen sah der Abbé Mouret auf die große Jungfrau. Sie drang auf ihn ein aus der Tiefe
ihres Nischengrüns in immer strahlenderer Pracht. Es war nicht mehr
wie Mondesgleiten über den Wipfeln der Bäume. Sonnenbehängt
erschien sie ihm, gebietend kam sie daher, ruhmeswürdig, riesenhaft
und so allmächtig, daß er für Augenblicke versucht war, sich auf
den Boden zu werfen, um dem Gleißen dieses in den Himmel
aufstehenden Tores zu entgehen.
Da kam ihm in der Hingabe seines ganzen Wesens, die ihm das Wort
auf den Lippen vergehen ließ, Erinnerung an den letzten Ausspruch
des Bruders Archangias wie an eine Gotteslästerung. Oftmals warf
der Bruder ihm seine besondere Andacht zur Jungfrau vor, die er
hinstellte als offenbaren Raub an der Andacht zu Gott. Nach ihm
verweichlichte sie die Seelen, verweibte die Religion, ließ eine
Gefühlsduselei entstehen, die unwürdig sei der Starkgeistigen. Er
konnte der Jungfrau nicht verzeihen, daß sie Frau war, schön und
mütterlich; er war auf der Hut vor ihr, von dumpfer Furcht erfaßt,
ihre Gnade könnte ihm Anfechtung bringen, er könnte ihrer süßen
Verführung erliegen. »Ihre Anbetung wird Sie weit führen,« hatte er
den jungen Priester eines Tages angeschrien; er erblickte in ihr
einen Beginn irdischer Leidenschaft, einen abschüssigen Weg zur
Schönheit kastanienbrauner Haare, klarer großer Augen, zu dem
Geheimnisvollen gerade abfallender Gewänder. Es war die Auflehnung
eines Heiligen, der heftig trennte die Mutter vom Sohn, wie dieser
fragend: »Weib, was hab' ich mit dir zu schaffen?« Aber der Abbé
Mouret sträubte sich, neigte sich anbetend nieder und versuchte die
Grobheiten des Bruders zu vergessen. Er war ganz erfüllt von jener
Entzückung in die unbefleckte Reinheit
Marias, die ihn aus der Niedrigkeit hob, mit der er sich demütigte.
Wenn in der Einsamkeit angesichts der großen Goldjungfrau sich
seine Sinne verwirrten bis zu der Vorstellung, sie neige sich, um
ihm ihren Scheitel zum Kuß zu bieten, wurde er wiederum ganz jung,
ganz gut, ganz stark, ganz ergriffen von lebendiger
Zärtlichkeit.
Die Andacht des Abbé Mouret zur Jungfrau stammte von Jugend her.
Als ganz kleines Kind war er etwas scheu und versteckte sich in den
Ecken; es gefiel ihm, sich zu denken, daß eine schöne Dame über ihm
wache, daß zwei blaue, sehr sanfte Augen und ein Lächeln ihm
überallhin folgten. Öfter fühlte er des Nachts einen leichten Hauch
über sein Haar streifen; dann erzählte er, die Jungfrau sei
gekommen und habe ihn geküßt. Er war erwachsen unter dieser
fraulichen Liebkosung, in dieser Luft belebt vom Rauschen
himmlischer Schleppen. Vom siebenten Jahre an befriedigte er seine
Zärtlichkeitsbedürfnisse durch das Erstehen von Heiligenbildchen,
für die er alle Groschen verausgabte, die ihm geschenkt wurden;
eifersüchtig verbarg er sie, um sich ganz allein ihrer zu freuen.
Niemals lockten ihn die Darstellungen des lammtragenden Jesus, des
gekreuzigten Christus, Gottvaters, der sich langbebartet über einen
Wolkenrand beugt; immer fand er zurück zu den sanften
Marienbildern, zu ihrem schmal lächelnden Mund, den zart
ausgestreckten Händen. Nach und nach wurde die Sammlung
vollständig: Maria mit Lilien und Spinnrocken, Maria, die wie eine
große Schwester das Jesuskind trägt, Maria rosengekrönt, Maria im
Sternenkranz. Sie waren ihm eine Familie schöner junger Mädchen,
sich ähnelnd in ihrer Anmut, mit dem gleichen
sanftmütigen Antlitz, so jugendlich unter
ihren Schleiern, daß er trotz der Benennung »Gottesmutter« keine
Scheu vor ihnen empfand wie vor erwachsenen Personen. Sie
erschienen ihm gleichalterig, waren ihm die kleinen Mädchen, mit
denen er sich gerne zusammengefunden
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