Die Sünde des Abbé Mouret
fühlte, eine Verzückung, in der er sich sah als großen
Eroberer, Herrscher eines unermeßlichen Reiches, der seine Krone
verschleudert, seine Zepter zerbricht, unerhörte Kostbarkeiten mit
Füßen tritt, Goldhaufen, Geriesel edler Steine, juwelenbenähte
Stoffe, um sich zu vergraben in Wüstengründen, in härene Gewänder
gekleidet, die das Rückgrat ihm aufrieben. Die Messe entriß ihn
diesen Vorstellungen, denen er sich entwand wie einer schönen
wirklichen Begebenheit, ihm in Vorzeiten zugestoßen. Er
kommunizierte, sang den Tagespsalm voller Eifer, ohne eine andere
Stimme zu vernehmen als seine eigene, kristallrein und so klar, daß
er fühlte, wie sie aufflog vor Gottes Thron. Und wenn er
hinaufging, zurück in seine Kammer, erstieg er eine Stufe nach der
anderen, wie der heilige Bonaventura und der heilige Thomas d'Aquin
es anraten; er ging langsam, leicht gesenkten Hauptes, mit
gesammelter Miene und fand unbeschreibliche Wonne in der Befolgung
der mindesten Vorschriften. Dann kam das Frühstück. Im Refektorium
machten ihm die Schwarzbrote, die aufgereiht lagen neben den
Gläsern mit weißem Wein, Vergnügen; denn es schmeckte ihm, und er
war gut gelaunt. Über den Wein äußerte er zum Beispiel, er sei ein
guter Christ; sehr gewagte Anspielung auf das Wasser, das man den
Ökonomen beschuldigte in die Flaschen zu füllen. Das hinderte ihn
nicht, seine würdige Miene wieder aufzusetzen, um die Klasse zu
betreten. Er schrieb sich Anmerkungen auf den Knien, während der
Professor mit am Kathederrand aufgestützten Händen im gebräuchlichen Latein vortrug; er
unterbrach sich meistens mit einem französischen Wort, wenn kein
anderes ihm einfiel. Es erhob sich eine Erörterung; die Schüler
äußerten sich in einem sonderbaren Kauderwelsch, ohne zu lachen.
Dann gab es um zehn Uhr während zwanzig Minuten eine Vorlesung aus
der Heiligen Schrift. Er ging und holte das reicheingebundene Buch
mit den goldenen Ecken, küßte es mit einer besonderen Verehrung,
las unbedeckten Hauptes und neigte sich grüßend alle Male, wenn die
Namen Jesus, Maria oder Josef vorkamen. Die zweite Meditation fand
ihn dann wohl vorbereitet um der Liebe Gottes willen, ein neues
Knien zu ertragen, länger als das erste. Er vermied es, sich auch
nur einen Augenblick auf die Hacken zu setzen, er genoß diese
dreiviertelstündige Gewissenserforschung, strengte sich an, Sünden
in sich aufzudecken, kam dazu, sich verdammt zu wähnen, weil er
abends zuvor vergessen hatte, die zwei Bildlein seines Skapuliers
zu küssen, oder weil er auf der linken Seite eingeschlafen war;
scheußliche Vergehungen, die er gerne wieder gutgemacht hätte durch
Knien bis zum Abend, beglückte Verfehlungen, die ihn in Anspruch
nahmen, ohne die er kaum gewußt hätte, was anzufangen mit seinem
ehrlichen Herzen ohne Falsch, eingeschläfert vom weißen Leben, das
er führte.
Er betrat das Refektorium wie erlöst, als ob er sich ein
schweres Verbrechen von der Brust gewälzt hätte. Die dienenden
Seminaristen mit aufgestreiften Sutanenärmeln und blauen
Zwillichschürzen um den Leib trugen die Nudelsuppe auf, das in
kleine Vierecke geschnittene Rindfleisch, die Portionen von
Hammelfleisch und Erbsen. Im hungrigen Schweigen hörte man
erschreckliche Kaugeräusche, ein eifriges
Gabelgeklapper, nur aussetzend, wenn neidische Seitenblicke nach
dem hufeisenförmigen Tisch geworfen wurden, an dem die Vorsteher
zarteres Fleisch, röteren Wein zu sich nahmen; während die breiige
Stimme irgendeines Bauernsohnes mit gesunden Lungen, über die Eßwut
hin, ohne Satzzeichen zu beachten, etwas aus frommen Schriften
blökte, aus Missionsbriefen, Hirtenbriefen, Aufsätzen religiöser
Zeitschriften. Zwischen zwei Bissen merkte er auf. Diese
Bruchstücke von Streitereien, Erzählungen weiter Reisen setzten ihn
in Verwunderung, erschreckten ihn sogar, weil sie ihm über die
Mauer des Seminars hinaus Bewegung, unermeßliche Horizonte zeigten,
die er nie bedachte. Wenn ein Klingelzeichen die Erholungsstunde
anzeigte, war man noch bei Tisch. Der Hof war sandbestreut, mit
acht großen Platanen bestanden, die im Sommer kühlen Schatten
spendeten; an der Mittagsseite erhob sich eine fünf Meter hohe
Mauer, mit Flaschenböden bespickt, über die man von Plassans nur
den obersten Turmgiebel der Markuskirche sehen konnte, eine
gedrungene Steinspitze im Blau des Himmels. Von einer Hofseite zur
anderen ging er langsam auf und ab, mit einer Schar Kameraden in
einer Reihe, und jedesmal, wenn er
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