Die Sünde
schloss er seinen Bericht.
Erzbischof Wieland erhob sich von seinem Schreibtisch. Tiefer als sonst vergrub er seine Hände in den Ärmeln seiner Soutane, als er zum Fenster ging. Gehlert den Rücken zugewandt, blieb er dort regungslos stehen. Der Generalvikar kannte die Angewohnheiten seines Bischofs. Er machte das immer, wenn er schwere Entscheidungen zu treffen hatte und Zeit zum Überlegen brauchte. Es machte Gehlert nichts aus, unendlich lange auf der Stelle zu verharren, ohne auch nur das geringste Geräusch zu verursachen. Er musste genau in dem Moment da sein, wenn es galt, den Bischof mit Rat und Tat zu unterstützen.
»Die Presse, nein, die ganze Welt wird ihn steinigen!« Mit diesen Worten drehte sich Erzbischof Wieland um.
»Aber, Exzellenz«, antwortete Gehlert entsetzt. »Seine Heiligkeit … wir können doch nicht zulassen …«
Mit einer Handbewegung unterbrach der Bischof den Generalvikar. »Dieser Kommissar Nawrod wird keine Ruhe geben. Er wird alles daransetzen, die Wahrheit ans Licht zu bringen. Seine muslimische Assistentin wird ihm dabei helfen. Ich sehe schon die Schlagzeilen: Muslima löst Erdbeben im Vatikan aus.«
»Wir müssen das verhindern«, erwiderte Gehlert verbissen. »Wenn wir das zulassen, dann … dann …«
»Die Folgen wären nicht abzusehen.« Bischof Wieland drehte sich abermals zum Fenster hin. Gehlert platzte fast vor Ungeduld. Doch er hatte gelernt, in solchen Situationen abzuwarten. Nach endlos langer Zeit drehte sich der Erzbischof wieder um. Beide sahen sich in die Augen. Entschlossenheit war in ihren Gesichtern zu erkennen. Wieland ging zu seinem Schreibtisch und griff zum Telefonhörer. Zuerst rief er den Innenminister an, um sich über Nawrods Auftreten zu beschweren. Vielleicht könnte er damit erreichen, dass die Ermittlungen nicht weiter vorangetrieben würden. Kaum hatte er das erste Gespräch beendet, betätigte er wieder die Tasten. Als er nach dem vierten Telefonat auflegte, sah er seinen Generalvikar fragend an. Gehlert war zufrieden. »Seine Exzellenz haben alles getan, was möglich war. Jetzt liegt es in Gottes Händen, was weiter geschieht.«
44
Nawrod und Yalcin wurden von Wegner auf dem Flur abgefangen. Er hatte die beiden schon voller Ungeduld erwartet und bat sie in sein Büro. Der Soko-Leiter wirkte äußerst angespannt. In sein Gesicht hatten sich noch tiefere Furchen gegraben. Seine Bewegungen wirkten behäbig. Die ersten Erschöpfungserscheinungen waren nicht mehr zu übersehen. Sicherlich hatte er sich die letzten Monate vor seiner Pensionierung etwas ruhiger vorgestellt.
Kaum hatten Nawrod und Yalcin Platz genommen, schrillte das Telefon. »So geht das schon den ganzen Tag«, stöhnte Wegner. Mit einem tiefen Seufzer nahm er den Hörer ab. Nach ein paar kurzen Worten beendete er das Gespräch mit der Bemerkung, er habe für so etwas im Moment keine Zeit. Dann knallte er den Hörer auf und kramte auf seinem mit Akten und losen Papieren überladenen Schreibtisch nach etwas. Wieder klingelte das Telefon. Wegner drückte das Gespräch weg. Anschließend hob er den Hörer an und betätigte die Taste zum Umleiten eingehender Telefonate auf den Apparat von Frau Lelle.
»Kommen wir gleich zur Sache, Nawrod«, begann Wegner. »Der Innenminister hat vorhin unseren Polizeipräsidenten angerufen und der leitete das Gespräch an mich weiter.«
»Dachte ich mir«, antwortete Nawrod sachlich.
»Unser oberster Vorgesetzter hat sich über den Ermittlungsstand und speziell über Sie erkundigt. Erzbischof Wieland hatte sich zuvor bei ihm massiv über Sie beschwert. Sie wurden beschuldigt, Sie hätten dem Bischof und seinem Stellvertreter gedroht, das bistümliche Archiv auseinanderzunehmen, wenn die Kleriker sich weigern würden, die Akten von Gottwald Radecke und diesem Otte herauszugeben.«
»Und was haben Sie dazu gesagt?«, fragte Nawrod säuerlich.
»Er ließ mich nicht zu Wort kommen. Von Polizeipräsident Lehmann, den ich zuvor unterrichtet hatte, wusste er anscheinend schon, dass Sie im Bistum eine vielversprechende Spur ausgegraben haben.«
»Ja und?« Bereit, die Rüge des Innenministers in Empfang zu nehmen, runzelte Nawrod verärgert die Stirn.
»Ich will es kurz machen, Nawrod.« Wegners Gesicht entspannte sich etwas. »Der Innenminister hat sich sehr lobend über Ihren Erfolg ausgesprochen. Anscheinend hat es ihm mächtig imponiert, wie Sie mit den hohen Würdenträgern umgegangen sind. Allerdings bat er darum, seine Meinung nicht an
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