Die Sünde
bekannt?«
Erzbischof Wieland warf seinem Stellvertreter einen fragenden Blick zu. Er rang sichtlich mit sich, bevor er die Frage beantwortete.
»Tut mir leid, Philipp Otte kenne ich nicht.«
»Das heißt, Sie haben den Namen noch nie gehört?«, bohrte Nawrod nach.
»Ich habe ihn hier auf dieser Liste gesehen, die mir unser Archivar vorhin übergeben hat. Wie Sie sehen, wurde das Papier vor über 20 Jahren erstellt. Damals war ich noch kein Bischof.«
»Aber Sie können doch sicherlich feststellen lassen, ob Philipp Otte noch das Priesteramt ausübt und wo er das gerade tut?«
Gehlert hustete zweimal, bevor er sich einschaltete. »Philipp Otte ist den Unterlagen zufolge schon vor vielen Jahren aus dem Priesteramt ausgeschieden.«
»Genau wie Gottwald Radecke!«, warf Yalcin ein.
Nawrod nickte seiner jungen Kollegin zu. »Können Sie uns sagen, wann genau und weshalb die beiden ihr Priesteramt aufgegeben haben? Das ist doch sicherlich ein … nun ja, ein nicht alltäglicher Vorgang in Ihrer Kirche.« Er suchte den Blickkontakt zu dem Erzbischof, doch der wich ihm aus, indem er so tat, als überfliege er eine vor ihm liegende Akte. Wieder schaltete sich Gehlert ein.
»Tut mir leid, wir würden Ihnen gerne helfen. Aber über diese Vorgänge liegen in unserem Bistum keine Unterlagen mehr vor.«
Nawrod sah zu Gehlert hoch. In dessen feistem Gesicht spiegelte sich die Lüge wider, die gerade eben über seine Lippen gekommen war.
»Da Sie ein Mann der Kirche sind und der Wahrheit dienen, glaube ich Ihnen.«
Gehlert atmete hörbar auf. Er warf seinem Vorgesetzten einen erleichterten Blick zu. Doch sein Gesicht verfinsterte sich wieder schlagartig, als Nawrod fortfuhr: »Aus Erfahrung weiß ich aber, dass sich Menschen, aus welchen Gründen auch immer, manchmal irren können. Selbst hochgestellte, ehrwürdige Personen wie Sie. Ich möchte mich deshalb persönlich vergewissern, ob es in Ihrem Archiv tatsächlich keine Unterlagen mehr über Radecke und Otte gibt, obgleich Ihnen sehr wohl bekannt ist, dass die beiden aus dem Priesteramt ausgeschieden sind.«
Die beiden Würdenträger wanden sich wie Aale im Netz. Auf der Stirn des Generalvikars hatten sich erneut dicke Schweißperlen gebildet. »Die Suche nach entsprechenden Akten ist sehr zeitaufwendig«, presste er verlegen hervor.
»Ich werde unseren Archivar anweisen, dass er den gesamten Bestand durchforstet und Ihnen anschließend Bescheid gibt, wenn er noch etwas über die beiden gefunden hat«, sagte Erzbischof Wieland und versuchte, sich mit dem rechten Zeigefinger am Kragen seiner Soutane etwas Luft zu verschaffen.
»Verzeihen Sie, Exzellenz, wie ich schon sagte, ist die Angelegenheit äußerst dringend. Ich muss leider darauf bestehen, mich jetzt sofort zu vergewissern.«
Erzbischof Wieland erhob sich von seinem Stuhl, ging zu einem der vier Fenster und öffnete es. Verhaltener Straßenlärm war zu hören. Nach wenigen Sekunden schloss er das Fenster wieder. Die Hände in den Ärmeln seiner Soutane vergraben, blieb er vor dem Fenster stehen. Er atmete tief durch. Nawrod zugewandt sagte er: »Gottwald Radecke und Philipp Otte wurden damals von meinem Vorgänger aus ihren Ämtern entfernt. Sie hatten sich gegen Gott und die Kirche versündigt und waren offensichtlich nicht mehr tragbar. Näheres geht aus den Unterlagen nicht hervor.« Er ging zu seinem Schreibtisch, bückte sich und entnahm aus einer Schublade zwei dünne Akten, die er Nawrod mit den Worten übergab: »Ich schwöre es bei Gott, dem Allmächtigen, das ist alles, was wir noch haben!«
Yalcin konnte sich ein verstecktes Lächeln nicht verkneifen. Abermals war sie von Nawrods Vorgehen äußerst beeindruckt. »Haben Sie denn keine zentrale Datei, in der Priester und deren Verfehlungen bundesweit erfasst sind?«, fragte sie etwas verwundert.
»Nein, so etwas gibt es bei uns Gott sei Dank noch nicht«, antwortete Gehlert. »Wir sind Diener Gottes und keine Polizisten.«
»Und wir vergeben den Sündern, weil es nur dem Allmächtigen vorbehalten ist, über sie zu richten«, ergänzte der Erzbischof.
Nawrod blätterte in den Akten. Plötzlich pfiff er durch die Zähne. »Die beiden sind am gleichen Tag und, wenn ich das richtig deute, auch aus dem gleichen Grund aus ihren Ämtern entfernt worden«, stieß er erstaunt hervor. »Exzellenz, würden Sie die Güte haben, mir zu sagen, was Peccatum contra sextum Decalogi cum minore heißt?« Nawrod hatte jedes einzelne Wort langsam und in aller
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