Die Sünde
nämlich kam am unteren Ende der Kopfhaut der Haaransatz des Genickes zum Vorschein und es sah aus, als ob der Tote zu Lebzeiten einen Seemannsbart gehabt hätte.
Als Yalcin den hohen, pfeifenden Ton der Schwingsäge wahrnahm, mit der Haberer etwa einen Zentimeter über den Augen kreisrund die Schädeldecke aufsägte, hätte sie sich am liebsten die Ohren zugehalten. Es dauerte eine ganze Weile, bis der Obduzent endlich vorsichtig die Schädeldecke abheben konnte. Er sah sich den oberen Teil des Gehirns genau an. Anschließend fasste er mit beiden Händen in die untere Hirnschale und hob das Gehirn heraus. Dabei musste er mit einem Skalpell die Nervenstränge, die das menschliche Gehirn mit dem Rückenmark verbinden, durchtrennen. Das Hirn und anschließend sämtliche anderen entnommenen Organe untersuchte er zunächst äußerlich. Anschließend legte er jedes einzelne Teil auf eine Waage. Die Gewichte diktierte er in das Aufnahmegerät. Danach nahm er weitere Untersuchungen vor, indem er die Organe nach genau vorgeschriebenen Regeln aufschnitt und deren Gewebe begutachtete.
Nach etwa zwei Stunden ging die Obduktion dem Ende zu. Haberer nähte mit groben Stichen die großen, länglichen Schnitte an verschiedenen Stellen des Körpers zusammen. Danach säuberte er mit fließendem Wasser die Leiche und den Seziertisch. Anschließend widmete er sich dem Kopf, der auf einem kleinen Nebentisch lag und dessen Schädeldecke immer noch aufgeklappt war. Von Weitem sah Yalcin die leere Gehirnschale. Der Inhalt lag in einer Edelstahlschüssel, die unmittelbar neben dem Kopf stand. Jetzt ist er nicht nur kopflos, sondern auch noch gehirnamputiert, wollte sie sagen, behielt es aber für sich, da sie nicht wusste, wie die anderen auf diesen makaberen Spruch reagieren würden. Haberer gab sich besondere Mühe, sodass man die Naht am Haaransatz kaum noch sah. Anschließend nahm er den Kopf in beide Hände und trug ihn zum Seziertisch. »Ich muss ihn wohl annähen«, sagte er sachlich. »Die Angehörigen würden sich sonst zu Tode erschrecken. Wir sind ja nicht im Mittelalter, wo ein solcher Anblick gang und gäbe war und selbst Kinder bei Enthauptungen zuschauten.«
Haberer verstand sein Handwerk. Nachdem er noch eine Gewebeprobe von der Schnittstelle am Hals genommen hatte, war in weniger als zehn Minuten kaum noch etwas von der Enthauptung der Leiche zu sehen. Er nickte zufrieden. »Wenn sie ihm noch einen ordentlichen Zwirn anziehen, wird er sich von anderen Toten nicht mehr unterscheiden.«
Ohne seine Handschuhe auszuziehen, wusch sich Professor Haberer die Hände und spritzte mit einem Schlauch seine lange, grüne Plastikschürze ab. Dabei wandte er sich zu Nawrod.
»Ich habe mir die Situation am Tatort angeschaut und dort auch die ersten Untersuchungen eigenhändig vorgenommen.« Er schaute Nawrod mit ernster Miene an. »Die Art der Enthauptung des Opfers ist sehr ungewöhnlich und eigentlich nicht erklärbar. Ohne die noch durchzuführenden feingeweblichen Untersuchungen kann ich derzeit nicht sagen, welche Waffe hier zum Einsatz kam. Ehrlich gesagt, habe ich nicht die geringste Ahnung. Die Schnittkante ist ringsum so perfekt gleichmäßig, dass man meinen könnte, der Hals wäre mit einer Präzisionsmaschine schablonenhaft durchtrennt worden. Selbst die Halswirbel sind nahezu unbeschädigt. Ein Chirurg könnte den Kopf eines Menschen nicht besser vom Körper trennen.«
Nawrod war enttäuscht. »Ist das alles, was Sie mir sagen können, Herr Professor?«
»Sicher ist, dass das Opfer in dem Auto zu Tode kam. Einen anderen Tatort schließe ich aus. Wir werden auf jeden Fall noch toxikologische Untersuchungen vornehmen und natürlich auch den Blutalkoholgehalt bestimmen, falls es in dieser Hinsicht überhaupt etwas zu bestimmen gibt. Aber ich kann Ihnen zum jetzigen Zeitpunkt nicht viel Hoffnung auf ein brauchbares Ergebnis machen. Tut mir sehr leid. Auch wir stoßen manchmal an gewisse Grenzen.«
»Schade, ich hatte mir von der Obduktion einiges erhofft. Rufen Sie mich bitte sofort an, wenn die weiteren Untersuchungen noch etwas ergeben sollten. Ich bin Tag und Nacht erreichbar.« Mit diesen Worten übergab Nawrod Haberer seine Visitenkarte.
Yalcin war froh, endlich den Sezierraum verlassen zu können. Draußen sprach sie nicht eine Silbe. Sie sah Nawrod die herbe Enttäuschung an und hätte in dieser Situation auch gar nicht gewusst, was sie sagen sollte. Bevor sie den Motor startete, klopfte Nawrod seiner jungen
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