Die Sünde
gesehen. Sie hatte Mühe zu realisieren, dass dieser leblose Körper bis vor ein paar Stunden noch ein Mensch gewesen war, der alltägliche Dinge getan hatte.
Die Obduktion hatte bereits begonnen. Der Obduzent begrüßte sie mit einem »Ah, da sind Sie ja!« Durch den Mundschutz klang seine Stimme irgendwie unpersönlich. Eine Brille und die grüne Arztmütze ließen sein Aussehen nur erahnen.
Nawrod presste ein »Guten Tag« hervor, während Yalcin beim Anblick der auf dem Seziertisch liegenden Leiche kein Wort herausbrachte. Zu sehr war sie bemüht, ihren Atem so flach wie möglich zu halten. Sie stellte sich vor, wie lauter kleine Geruchspartikel in Mund, Nase und Lunge eindrangen, um sich dort für immer und ewig niederzulassen. Sollte sie nach einem Mundschutz fragen? Das würde man ihr bestimmt als ein Zeichen von Schwäche ausgelegen. Aber die beiden Obduzenten trugen doch auch welche?
»Ich habe es mir nicht nehmen lassen, die Obduktion selbst durchzuführen. Das ist ein sehr interessanter Fall, und ich bin gespannt, wie die Sache ausgeht. Wie war doch gleich Ihr Name?«
»Ich heiße Nawrod und das ist meine Kollegin Yalcin. Wir sind beide mit der Aufklärung des Falles betraut worden.«
»Gratuliere! Oh Entschuldigung, ich bin der Leiter der Gerichtsmedizin, Haberer ist mein Name.«
»Sehr erfreut«, erwiderte Nawrod, während der Obduzent seine Arbeit fortsetzte.
Nawrod hatte von der Kriminaltechnik bereits im Vorfeld erfahren, dass Professor Reinhard Haberer die Obduktion vornehmen würde. Der Rechtsmediziner wurde als sehr erfahren beschrieben. In unzähligen Mordfällen hatte er schon wichtige Beiträge zur Verurteilung der Täter geleistet.
Nawrod schaute interessiert zu, obwohl es ihn einige Überwindung kostete. Yalcin hielt Abstand zum Geschehen. Sie musste sich beherrschen, sich nicht zu übergeben, denn Professor Haberer hatte gerade den Bauchraum der Leiche geöffnet, aus dem sofort ein äußerst übler Verwesungsgeruch strömte. Gleichzeitig sprach er in das über dem Seziertisch befindliche Mikrophon eines Aufnahmegerätes. Während einer kurzen Pause sagte er zu dem jungen Assistenten: »Sie können jetzt die Schädeldecke öffnen.« Haberer hatte zuvor am abgetrennten Kopf einen sauberen Hautschnitt unterhalb des Haaransatzes vorgenommen, ausgehend von der rechten Schläfe über den Hinterkopf bis zur linken Schläfe. Der Assistent fasste mit der einen Hand hinter den Kopf und mit der anderen hielt er ihn vorne im Gesicht fest. Dann zog er langsam die Kopfhaut von hinten nach vorne, sodass die blanke Schädeldecke zum Vorschein kam. Die Innenseite der Kopfhaut war fast weiß und an verschiedenen Stellen etwas blutig. Plötzlich war ein kurzes Stöhnen zu hören. Bevor die anderen reagieren konnten, sackte der Assistent in sich zusammen. Professor Haberer legte sofort sein Skalpell zur Seite und riss sich die von Leichenblut besudelten Handschuhe von den Händen. Dann bückte er sich zu seinem Assistenten hinunter und zog ihm den Mundschutz nach unten. Das Gesicht des jungen Mannes war blütenweiß. Er verdrehte die Augen und versuchte zu sprechen. Es kam nur ein Lallen aus seinem Mund. Haberer versetzte ihm zwei leichte Ohrfeigen, die offensichtlich Wirkung zeigten. Der Assistent kam langsam wieder zu sich. Mit Hilfe seines Chefs richtete er sich mühsam auf. Nawrod half, ihn zu stützen.
»Ich habe heute noch nichts gegessen«, entschuldigte sich der Assistent. »Das ist mir noch nie passiert.« Die blaue Arztmütze saß schief auf seinem Kopf.
Nawrod musste innerlich lächeln. Auch die, die täglich damit zu tun hatten, waren nicht dagegen gefeit. Vor Jahren war ihm bei einer Obduktion auch einmal schwindelig geworden. Er hatte die Situation überspielen können, indem er sich weggedreht und mehrmals kräftig durchgeatmet hatte.
»Trinken Sie erst einmal einen Kaffee und essen Sie eine Kleinigkeit. Dann geht es schon wieder«, sagte Haberer in väterlichem Ton. »Ich mache hier weiter.«
Der Assistent nickte. Mit schwankenden Schritten verließ er den Sezierraum.
Haber zuckte mit den Schultern. »Kann jedem mal passieren. Ist ja nicht seine erste Obduktion gewesen.« Danach fuhr er mit der Arbeit fort. Er zog die Schädelhaut vollends bis zum Kinn herunter. Für Nawrod sah es immer wieder irgendwie grotesk aus, wenn er statt eines Gesichts nur noch eine blasse, mit blutigen Flecken durchzogene Haut sah und wenn die Leiche, wie in diesem Fall, etwas längere Haare hatte. Dann
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