Die Sünde
Methodik nennt man so etwas.«
»Aber …«
»Nichts aber, Kriminalhauptkommissar Nawrod. Hören Sie auf, um Ihr Leben zu winseln. Sie enttäuschen mich sonst zu sehr. Ich muss es tun. Gottes Wille ist unumstößlich. Sein Auftrag ist höchstes Gebot und steht weit über Ihrem kümmerlichen Dasein. Sobald die Bilder von Radeckes Kopf um die Welt gegangen sind, werden die Frevler in der heiligen katholischen Kirche mit Geschrei und Wehklagen ihr Heil in der Flucht suchen, um nicht auf dem Scheiterhaufen der Rache zu verbrennen. Doch es gibt kein Entrinnen. Sie werden früher oder später alle in der Hölle schmoren. Gott der Herr hat mich ausersehen, seinen Willen zu erfüllen. Er gibt mir die Kraft und Zuversicht, in seinem Namen werde ich …«
»Gottwald Radecke lebt also noch?«, unterbrach Nawrod. Er wollte sich das Geschwafel dieses Verrückten nicht länger anhören.
»Das ist nicht von Belang«, erwiderte Dreyer. »Jetzt geht es erst einmal um Sie.«
»Wie brachten Sie es fertig, Frauen für Ihre Sache zu gewinnen? War das nicht ein zu großes Risiko für Sie?«
Dreyer lachte. Dieses Mal aber amüsiert. »Sie meinen wohl die Damen, die die Pakete aufgegeben haben?«
»Genau die meine ich. Und jener ältere Herr? Wie konnten Sie nur diese Menschen in die Sache mit hineinziehen?«
»Moment mal. Ich bin gleich wieder hier«, antwortete Dreyer und entfernte sich.
Nawrod überlegte. Hatte er jetzt einen Fehler begangen? Die Reaktion Dreyers kam ihm äußerst seltsam vor. Was führte er im Schilde? Wie sollte er sich mit diesem Wahnsinnigen weiter unterhalten? Würde es sich Dreyer vielleicht anders überlegt haben und chirurgische Instrumente aus dem Nachbarzimmer holen, um ihm damit ein Körperteil abzutrennen oder ihn damit sogar zu töten? Nawrod merkte, dass das Blut in seinen Adern immer weniger zirkulierte. An Armen und Beinen hatten sich bereits Taubheitsgefühle eingestellt. Tausend Nadeln schienen sich in seine Haut zu bohren und er konnte nichts dagegen tun. Er spielte mit dem Gedanken, laut zu schreien. Vielleicht hörte ihn doch jemand, der ihn retten würde. Es konnten doch nicht alle, die Dreyer in seinen persönlichen Rachefeldzug mit hineingezogen hatte, Bestien sein. Vielleicht würde eine der Botinnen hier sein und ihn befreien. Hätte er sich erst einmal dieser verdammten Fesseln entledigt, könnte er möglicherweise flüchten und Verstärkung anfordern. Ob Dreyer das Handy in seiner rechten Hosentasche gefunden hatte?
Nawrod hörte hinter sich ein Geräusch. Irgendjemand betrat den Raum. Die Schritte klangen auffallend schleppend. Ein Hüsteln und stoßweiser Atem waren zu hören. Er drehte seine Augen so weit nach oben, wie es nur ging. Dann sah er sie. Zuerst ihren Kopf, auf dem sie einen kleinen, hellblauen Hut trug. Ihre Nickelbrille passte zu den weißgrauen Haaren, die ihre Ohren verdeckten und leicht gewellt auf ihre Schultern fielen. Aufgrund der Falten in ihrem Gesicht schätzte Nawrod sie auf etwa 80 Jahre. Das muss Haiders Mutter sein, dachte er. Er hatte das Bild von ihr, das Goll sich vom Passamt besorgt hatte, zwar nur einmal gesehen, aber er hatte es sich gut eingeprägt.
Wieder hüstelte sie. Die Frau war offensichtlich krank. Sie ging deutlich gebückt. Jetzt sah er den Rollator, mit dem sich die Alte mühsam fortbewegte. Zweifellos war sie es, die in der Postfiliale Kleingemünder Straße 35 im Stadtteil Ziegelhausen eines der Pakete abgegeben hatte. Die Beschreibung passte haargenau auf sie. Selbst die Kleidung.
Die Alte hatte offensichtlich Angst, denn sie hielt gebührenden Abstand zu ihm, als sie an ihm vorbeiging. Sie postierte sich links an seinem Fußende, sodass er sie gut sehen konnte. Nawrod erkannte nichts Böses in ihrem Gesicht. Sie warf ihm einen mitleidigen Blick zu.
»Frau Haider? Sind Sie Frau Haider?«
Die Alte nickte. Sie müsste doch noch im Krankenhaus sein, dachte Nawrod. Wie konnte sie sich nur so schnell erholen?
»Bitte helfen Sie mir!« Nawrod beherrschte sich, nicht zu schreien. »Helfen Sie mir! Er wird mich sonst töten.«
Wieder dieser mitleidige Blick und ein kaum wahrnehmbares Nicken.
Nawrod begann zu flüstern. »Machen Sie bitte schnell, bevor er wiederkommt. Er ist eine Bestie und kennt keine Gnade. Ich werde für Sie vor Gericht ein gutes Wort einlegen und für Ihren Sohn auch. Sie müssen dafür nicht ins Gefängnis, das verspreche ich Ihnen. Nun machen Sie schon! Bitte!«
Mit zitternder Hand griff die Alte an ihren
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