Die Sünde
Sofort hatte er wieder dieses grausige Bild der von Säure zerfressenen Leiche vor Augen und den ekelerregenden Geruch in der Nase.
»Und gleich zu Ihrer nächsten Frage: Ich wollte Ihr Gesicht sehen, wenn Sie aufwachen, und ich wollte Sie zugegebenermaßen auch persönlich kennenlernen, bevor ich Sie mit einer Überdosis ins Jenseits befördere.« Dreyer hob die Spritze gegen das Licht und schnippte mit dem Zeigefinger gegen den kleinen Zylinder.
»Und warum musste Schaller sterben?«, keuchte Nawrod.
»Das habe ich Ihnen doch schon gesagt. Er ist zu einer großen Gefahr geworden.«
»Weil er mit Radeckes Kreditkarte am Hauptbahnhof Geld abhob, stimmt’s?
»Genau. Aber nicht nur deshalb musste ich ihn töten. Er wollte einfach nicht begreifen, um was es wirklich ging. Er sah nur Radeckes Geld, sonst nichts.«
»Ihnen ging es bei der Ermordung der Ex-Priester nur um Rache! Welch profanes Motiv. Ist auch nicht viel besser als Schallers Gier nach Geld.«
»Ich bin enttäuscht von Ihnen, Herr Nawrod. Denn ich dachte, Sie wüssten längst, welche große Aufgabe wir uns gestellt haben.«
»Was ist groß daran, Menschen grausam zu verstümmeln, zu töten und in Salzsäure aufzulösen?«
»Das war nur Mittel zum Zweck. Wie sonst hätten wir die Aufmerksamkeit der Welt auf uns ziehen können? Als wir sahen, welchen Medienrummel ein abgetrennter Kopf auslöste, wussten wir sofort, wie wir die Sache angehen mussten.«
»Herr Doktor Dreyer, Sie können doch nicht im Ernst glauben, dass Sie mit Ihren Aktionen irgendetwas verändern.«
»Das habe ich doch schon, lieber Herr Nawrod. Nicht nur die Islamisten, sondern die ganze Welt spricht davon und wartet auf weitere Taten und Botschaften. Und wenn sich dieser Papst mit seiner gesamten Kurie noch so lange versteckt, ich werde sie alle aus ihren Löchern herauslocken und vernichten, damit sie im ewigen Feuer der Hölle schmoren.«
»Sie können doch nicht alle töten!«
»Gott der Herr hat mich auserwählt und hat mir das Schwert der Apokalypse in die Hand gegeben. Er hat mir befohlen, die Frevler innerhalb der katholischen Kirche auszumerzen und sie dem Satan zu übergeben.«
Nawrod wurde klar, dass seine letzte Stunde gekommen war. Doktor Dreyer und seine Helfershelfer würden vor weiteren Morden nicht zurückschrecken. Ein Menschenleben stellte für sie nicht den geringsten Wert oder Widerstand dar. Mitleid und Vergebung kannten sie nicht. Ohne mit der Wimper zu zucken, würden sie nicht nur seines, sondern auch Radeckes Leben auslöschen, wenn sie Letzteres nicht schon längst getan hatten. Sie würden so lange Priester oder Ex-Priester in ihre Gewalt bringen, bis ihre Glaubensbrüder beginnen würden, sich selbst zu zerfleischen. Der Anfang hierzu war schon gemacht. Johannes Holzmann war tot und im Vatikan herrschten Chaos, Neid und Krieg. Es spielte keine Rolle, ob Holzmann in den Tod getrieben oder sogar heimtückisch umgebracht worden war. Das Letztere lag nahe. Nawrod hatte mal gelesen, dass es in früheren Zeiten durchaus üblich gewesen war, innerhalb des Vatikans auch hohe Würdenträger vom Leben in den Tod zu befördern, sobald sie eine Gefahr für die allmächtige Institution der katholischen Kirche darstellten. Das geschah in der Mehrzahl der Fälle mit Gift. Warum sollte es in dieser erzkonservativen Kirche heute anders sein?
Als Nächstes würde sicher mit dem Ableben des altersschwachen und vom Tod seines Privatsekretärs schwer mitgenommenen Papstes zu rechnen sein. Es war nur noch eine Frage von Tagen. Und dann würde das Hauen und Stechen erst richtig beginnen. Wer weiß, was Dreyer und seine Helfer noch in petto hatten. Vielleicht hatten sie sich inzwischen ebenso Zugang zum Schwarzbuch der katholischen Kirche verschafft, wie es Yalcin getan hatte. Dann stünde ihnen eine Unmenge an Material zur Verfügung, um die größte christliche Vereinigung zu vernichten. Sie könnten damit an allen Ecken und Kanten Feuer legen, bis es unweigerlich zu einer Feuersbrunst ungeheuren Ausmaßes kommen würde.
Nawrods Hirn arbeitete fieberhaft. Menschen wie Dreyer war nur schwer beizukommen. Er musste auf jeden Fall Zeit gewinnen. Vielleicht konnte er bei dem ungleichen Kampf doch irgendwann einen lucky punch landen. Aber wie? Unmöglich! War er doch auf Gedeih und Verderb, völlig bewegungsunfähig, diesem verblendeten Mörder ausgeliefert.
»Sie wollen im Auftrag Gottes handeln und haben weder Philipp Otte noch Gottwald Radecke eine Chance gegeben, ihre
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