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Die Sünde

Die Sünde

Titel: Die Sünde Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Toni Feller
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Zeitgefühl. Letzteres war unvorstellbar schlimmer als alles andere und brachte ihn an den Rand des Wahnsinns. Manchmal begann er am ganzen Körper zu zittern. Dann konnte er keinen einzigen klaren Gedanken mehr fassen. Sein Herz raste und drohte zu zerspringen. Es war für ihn der reinste Horror. Nicht zu wissen, ob eine Stunde, ein Tag oder gar eine Woche vergangen und ob es Tag oder Nacht war. Ob er noch ein Mensch oder schon zum Tier geworden war. Ob er überhaupt noch lebte.
    Er hatte versucht, durch Fühlen seines Pulses ein Zeitgefühl zu erhalten. Er wusste, dass er im Ruhezustand einen Puls von etwa 72 hatte. 72 mal 60 ergab 4.320. So oft musste er seinen Puls fühlen, bis eine Stunde vergangen war. Als er jedoch merkte, dass sich der Pulsschlag während des Zählens erhöhte, weil er sich zu sehr konzentrieren musste, gab er auf. Wenn überhaupt, zählte er fortan nur noch bis 72, um zumindest nicht das Gefühl zu verlieren, wie lang eine Minute ist.
    Die Gefangenschaft war die Strafe für das, was er getan hatte. Sie war in seinen Augen unverhältnismäßig hart. Da er jedoch nichts daran ändern konnte, fand er sich nach dem zweiten Haftkoller mehr oder weniger damit ab. Langes Beten half ihm dabei. Er war geübt in Gebeten, kannte unzählige Psalmen und Bittgebete auswendig. Und er sprach zu Gott auch mit eigenen Worten. Er war ein Sünder, der schwere Schuld auf sich geladen hatte.
    Vielleicht hatte Gott ihn erhört? Warum sonst hatte man ihm den Finger abgeschnitten? Das musste doch einen Grund haben. Obwohl sich Otte überhaupt keinen Reim darauf machen konnte, kam ihm der Gedanke, dass sein abgetrennter Zeigefinger nur dazu dienen konnte, jemand anderen unter Druck zu setzen. Aber wen und warum? Es gab niemanden, der ein Lösegeld für ihn zahlen würde. Schon seit Jahren lebte er allein, isoliert. Seine kleine Rente reichte gerade mal für die Miete und ein paar spärliche Lebensmittel. Niemand würde ihn vermissen. Allenfalls sein Vermieter, wenn die Miete ausblieb. Der würde nicht lange zögern, seine paar Habseligkeiten nach Verwertbarem zu durchsuchen und anschließend den Rest diskret im Mülleimer zu entsorgen, um schnellstmöglich einem neuen Mieter die möblierte Einzimmerwohnung anbieten zu können. Bestimmt würde er keine Vermisstenanzeige erstatten. Menschen wie er wollten mit der Polizei nichts zu tun haben. Da war sich Otte sicher. Dennoch keimte wegen seines fehlenden Fingers Hoffnung in ihm auf. Wenn keine Infektion hinzukam, würde er die Amputation überleben, und der Finger könnte vielleicht doch der Schlüssel zur Freiheit sein. Nur ein Finger. Es gab viele Menschen, denen ein Finger fehlte. Sicher konnten die meisten gut damit leben. Ich werde es auch. Ich werde leben, dachte er.
    7
    Nawrods Telefon klingelte. Er hob ab. »Kannst du mit Yalcin mal auf einen Sprung zu mir rüberkommen? Ich habe einige Neuigkeiten für euch.« Nawrod erkannte die Kriminaltechnikerin sofort an der Stimme.
    »Wir sind schon auf dem Weg«, antwortete er in gespannter Erwartung und legte auf.
    Yalcin im Gefolge, klopfte er zwei Minuten später an Bauers Tür.
    »Macht es euch bequem.« Die Kriminaltechnikerin deutete freundlich lächelnd auf die beiden Stühle, die vor ihrem Schreibtisch standen. Bevor sich Nawrod setzte, bot er Yalcin den rechten der beiden Stühle an.
    Geht doch, dachte Yalcin und freute sich über die nette Geste. »Danke, Jürgen«, sagte sie laut und betont höflich.
    »Keine Ursache«, antwortete Nawrod.
    »Ich möchte nicht lange um den heißen Brei reden«, begann Sabine Bauer, während sie Nawrod für den Bruchteil einer Sekunde tief in die Augen schaute.
    »Vorhin erhielt ich von Barbara einen Anruf. Sie sagte, sie habe den Finger gründlich untersucht und dabei zweifelsfrei festgestellt, dass die Person noch lebte, als der Zeigefinger abgetrennt wurde. Der Finger stamme von einer männlichen Person im Alter zwischen 55 und 65   Jahren. Unter dem auffallend ungepflegten Fingernagel hätten sich Reste von Kot befunden, die eindeutig dem Amputierten zugeordnet werden konnten. Auch konnten darunter noch mikroskopisch kleine Farbspuren festgestellt werden, die erst noch analysiert werden müssten. Diese Untersuchung würde jedoch noch längere Zeit in Anspruch nehmen.«
    »Das ist doch schon mal was«, erwiderte Nawrod freundlich. »Hat die Gerichtsmedizinerin sonst noch etwas herausgelassen?«
    »Nach Barbaras Einschätzung gehört der Finger zu keiner Hand, die hart

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