Die Sünde
eines kleinen Zeigefingers bestimmt kein Problem.«
»Hoffen wir, dass wir in diesem riesigen Berg von Ermittlungsansätzen nicht herumwühlen müssen.« Auf Wegners Stirn bildeten sich deutliche Sorgenfalten. »Das würde jede Menge Arbeit bedeuten und dafür habe ich nicht das Personal. Sie beide könnten das unmöglich allein bewerkstelligen.«
»Ich frage mich immer noch, warum der Absender gerade mich als Empfänger dieses seltsamen Päckchens ausgewählt hat. Haben Sie eine plausible Erklärung?«, fragte Nawrod seinen Dezernatsleiter nachdenklich.
Wegner hob die Schultern. »Darüber habe ich mir auch schon den Kopf zerbrochen. Ich denke, wir haben keine andere Wahl als abzuwarten, wie sich der Fall weiterentwickelt.«
6
Der stechende Schmerz an der rechten Hand riss Philipp Otte aus der Bewusstlosigkeit. Er war sich nicht sicher, ob dieser Schmerz real existierte, denn er hatte von ihm schon geträumt, als er noch tief und fest geschlafen hatte. Otte konnte sich nicht erinnern, ob der Traum lang oder kurz war. Er wusste auch nicht mehr, was er außer dem Schmerz noch geträumt hatte. Ähnlich einer Explosion war der Schmerz im Traum über ihn gekommen. Zuerst hatte es sich angefühlt, als ob seine Hand in flüssiges Eisen getaucht worden wäre. Dann breitete sich der Schmerz stakkatoartig im ganzen Köper aus. Er raubte ihm den Atem, und im Traum meinte Otte, ersticken zu müssen. Überall glühendes Eisen. Er wollte schreien, konnte aber nicht, weil ihm die Luft hierzu fehlte.
War er tatsächlich wieder bei Bewusstsein? Otte war sich nicht sicher. Er richtete sich auf. Die Schmerzen, die Zelle, der Geruch, die Stille, seine Nacktheit – es erschien ihm alles so irreal. Er sah auf die notdürftig verbundene Hand. Der Verband glich einem Fäustling und war blutdurchtränkt. Wie konnte ich mich hier verletzen, war sein erster Gedanke. Habe ich mal wieder mit der Faust gegen die Wand geschlagen? Die Schmerzen raubten ihm fast die Besinnung, als er mit der linken Hand den Verband abtastete. Mit einem lauten, gequälten Stöhnen legte er sich wieder hin. Als sein Kopf das Ende der Pritsche berührte, stellte er eine seltsame Veränderung fest. Langsam hob er die linke Hand und führte sie zum Kopf. Jetzt hatte er Gewissheit. Man hatte ihm die Haare abrasiert. Alle. Sein Schädel war vollkommen glatt. Er sah an sich hinunter. Selbst seine Brust- und Schamhaare hatten sie entfernt.
»Wie ein Schaf nach der Schur.« Otte war entsetzt. »Sie wollen mir alles nehmen, selbst mein eigenes Ich.«
Was würde man ihm noch antun? Er fing an zu weinen. In das Weinen mischte sich ein Jammern, das sich langsam steigerte. Als Otte schließlich vor Schmerzen laut schrie und dabei immer wieder um Hilfe rief, überkam ihn das Gefühl, dem Tod sehr nahe zu sein. Dem Schreien folgte ein Wimmern, das irgendwann leiser wurde, bis es kaum noch hörbar war. Er schloss die Augen und fiel erschöpft in einen Schlaf.
Als er wieder erwachte, hatte sich der Schmerz in seiner Hand verändert. Er war jetzt nicht mehr stechend, sondern dumpf dröhnend und im Rhythmus des Pulses pochend. Otte sah, dass der Verband nicht weiter vom Blut durchtränkt worden war. Er setzte sich auf die Kante der Pritsche und zog vorsichtig an dem Heftpflaster am Ende der Binde. Zitternd und mit schmerzverzerrtem Gesicht nahm er Stück für Stück den Verband ab, obwohl er Angst hatte vor dem, was er zu sehen bekommen würde. Endlich kam die Wunde zum Vorschein. Seine rechte Hand verschwamm ihm vor den Augen. Hatte er richtig gesehen? Otte wischte sich die Tränen weg. Dann sah er noch einmal hin.
»Mein Gott!«, stöhnte er laut. »Sie haben mir den Finger abgenommen. Diese Bestien haben mich verstümmelt!«
Otte war nicht fähig, den Verband wieder anzulegen. Die Schmerzen waren zu heftig. Er sank auf die Pritsche und sah sich die Wunde noch einmal an. Sie hatten sich nicht einmal die Mühe gemacht, sie mit ein paar Stichen zu nähen. Das Fleisch war dunkelrot und in der Mitte schimmerte hell ein Stück des Mittelhandknochens durch. Die anderen vier Finger waren unversehrt. Otte streckte die rechte Hand in die Höhe. Sofort ließ der Schmerz ein wenig nach und das Pochen in der Wunde hörte auf.
In der letzten Zeit seiner Gefangenschaft hatte er sich kaum noch Gedanken über seine Zukunft gemacht. Er war eingesperrt. Lebendig begraben. Man hatte ihm alles genommen. Die Kleidung, den Kontakt zu anderen Menschen, jegliche Geräusche und vor allem das
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