Die Sünde
zu tasten. Dann die Gewissheit. Sie hatten ihm das rechte Ohr abgetrennt. Doch statt entsetzt, traurig oder verbittert zu sein, freute er sich. Es war kurios. Das hat seinen Grund, dachte er. Das muss einen Grund haben, und dieser Grund ließ ihn hoffen, sehr bald in Freiheit zu kommen.
Er nahm sich vor, seinen Peiniger danach zu fragen, sobald sich wieder die Klappe an der Tür öffnete. Otte konnte es kaum erwarten. Er wusste nicht mehr, wie oft er bis 72 gezählt hatte, als er endlich ein Geräusch an der Tür vernahm. Es war immer das gleiche Geräusch, und es bedeutete auch immer das Gleiche. Die Klappe fiel nach außen in die Waagrechte. Dann wurde der dünne Plastikteller draufgestellt. Daneben das Plastikbesteck. Beim Wegnehmen sah Otte für einen Augenblick einen Teil der grünen Uniform. Kein Gesicht, keinen Arm, nur ein Stück Brust, so vermutete er aufgrund der Knopfreihe, die er sah.
Die Aussparung an der Tür war zwar tellerbreit, aber zu niedrig, um den Kopf durchzustrecken. Otte nahm Teller und Besteck herunter, um ungehindert durch die schmale Öffnung sprechen zu können. Er bückte sich, obwohl ihm das höllische Schmerzen bereitete. Zunächst brachte er keinen Ton heraus, denn er hatte schon lange nicht mehr mit einem Menschen gesprochen. Wenige Male mit sich selbst. Es kostete ihn sehr viel Energie zu sprechen.
»Sa… sa… sagen Sie … mal.« Er zitterte, brach ab, holte wieder Luft. »Wa… warum ha… haben Sie mir …«
Weiter kam Otte nicht. Die Klappe wurde nach oben geschwenkt und verriegelt. Otte sank zu Boden und fing an zu weinen. Der Teller glitt ihm aus der Hand. Sein Inhalt breitete sich auf den Fliesen aus. Die Ohnmacht, die er gegenüber seinem Bewacher empfand, übertraf sogar die Schmerzen an seinem geschundenen und verstümmelten Körper.
»Nimm dich zusammen«, sagte er mehrfach laut zu sich selbst. »Nimm dich zusammen. Nächstes Mal fragst du gleich, wenn die Klappe geöffnet wird. Und nicht stottern, denn das kostet Zeit.«
Das Plastikgeschirr in der Hand, stellte sich Otte vor die Tür und begann wieder zu zählen. Sein Magen knurrte. Er hatte lange kein Essen bekommen. Mit nackten Füßen stand er in der Kartoffelsuppe. Sicherlich hatte er während seiner Haftzeit schon einige Kilo abgenommen, denn die Intervalle zwischen den einzelnen Mahlzeiten waren sehr lang. Zumindest kam ihm das so vor. Nach wie vor hatte er jedoch kein Zeitgefühl. Jetzt nur nicht schlapp machen, dachte er, als ihm die Knie weich wurden.
»Bestimmt habe ich viel Blut verloren«, murmelte er. »Eine Kopfwunde blutet immer stärker als andere Verletzungen. Ich muss vorher genau wissen, was ich ihn frage. Was frage ich ihn eigentlich? Ich darf ihn nicht verärgern. Das ist das Wichtigste. Sonst habe ich keine Chance.« Otte dachte nach.
»Herr Wachtmeister, sage ich. Nein, Herr Oberwachtmeister, das hört sich besser an. Also, Herr Oberwachtmeister, ich möchte mich für das gute Essen bedanken. Es hat vorzüglich geschmeckt. Könnten Sie mir bitte sagen, ob sich in meiner Sache etwas tut? Oder soll ich besser sagen, getan hat? Und sagen Sie dem Richter, dass ich meine Verbrechen aufs Tiefste bereue. Vielleicht hat er ja ein Einsehen und lässt Gnade vor Recht ergehen.«
Otte zweifelte. Sollte er die beiden letzten Sätze nicht besser weglassen? Er wiederholte alles noch zwei-, dreimal und entschloss sich dann, die Reaktion seines Bewachers abzuwarten. Vielleicht konnte man mit ihm ganz vernünftig reden.
Otte merkte, wie der Kopfverband unter dem Kinn warm wurde. »Lieber Gott, lass mich nicht verbluten«, betete Otte. »Alles, nur nicht verbluten. Bitte, bitte nicht.« Blut tropfte auf seinen rechten Fuß.
»Ich muss mich hinlegen«, murmelte er. »Auf die linke Seite. Nur so kann ich Puls und Blutdruck reduzieren. Vielleicht hört es dann auf zu bluten.«
Otte legte sich auf die Pritsche. Er starrte gebannt auf die Türklappe an der Tür. Die Blutung ließ nach. Er kämpfte gegen eine bleierne Müdigkeit.
9
Es klopfte zaghaft an der Tür. Da Nawrod gerade telefonierte, hörte er es nicht. Nesrin Yalcin war nicht da. Sie war auf dem Weg zur zentralen Aktenhaltung. Dort wollte sie sich eine Akte von einem Mörder besorgen, der seine Opfer portionsweise zerstückelte, bevor er ihnen endgültig den Garaus gemacht hatte. Sie hatte sich zwar schon vergewissert, dass der zu lebenslanger Haft verurteilte Täter noch einsaß, dennoch erhoffte sie sich aus der Akte Aufschluss über die
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