Die Sünde
abzurasieren. Hab ausprobieren wollen, wie es ist, wenn ich es bei mir selbst mache. War ein irres Gefühl, sage ich dir. Du guckst in den Spiegel und bist plötzlich ein anderer Mensch.«
»Wir hatten aber abgesprochen, alles zu vermeiden, was auffällig sein könnte.«
»Scheiß dir nicht in die Hose. Ich bin doch nicht der Einzige in Heidelberg, der so herumläuft. Das ist voll trendy, Junge. Hast du das noch nicht mitbekommen?«
»Zieh bitte deine Jacke aus und streif dir den Arztkittel über!«, sagte der Blonde, der das Skalpell schon in der Hand hielt.
Der andere tat, wie ihm geheißen wurde. Anschließend zog er Einmalhandschuhe an. Bevor er sich den Mundschutz umband, presste er hasserfüllt hervor: »Schneid ihm seinen Dreckspimmel ab! Er wird schon nicht daran verrecken.« Kaum hatte er den Mundschutz angelegt, begann er Radeckes Unterleib mit orangerotem Desinfektionsmittel einzusprühen. Danach stellte er die Sprühdose neben Radeckes Hüfte ab. Auf Radeckes Stirn bildeten sich dicke Schweißperlen. Sein Atem ging stoßweise und verursachte stechende Schmerzen in der Brust. Es dröhnte in seinem Kopf. Die Augen weit aufgerissen, stammelte er mit seltsam fremd klingender Stimme: »Bitte nicht, bitte tut das nicht. Ich habe Geld, viel Geld. Ihr könnt alles von mir haben!«
»Wie viel hast du?«, kam es kalt über die Lippen des Blonden. Er nahm das Desinfektionsmittel und sprühte damit Radeckes linke Hand ein.
»Meine Wohnung in Berlin ist mindestens 250.000 Euro wert. Dann habe ich noch Aktien, Gold und Bargeld. Alles in allem noch einmal etwa 500.000 Euro«, stieß er verzweifelt hervor.
»Eine halbe Million? Alle Achtung.« Die Antwort klang hämisch, aber Radecke sah, dass sich die beiden zunickten. In ihren Augen fiel ihm eine gewisse Verwunderung auf. »Ich überschreibe euch alles, die Wohnung, die Aktien, einfach alles«, setzte er nach. »Das Gold liegt im Schließfach meiner Bank. Ihr könnt es holen, sofort«, keuchte er. »Mit einer Bankvollmacht kommt ihr auch an meine Aktien und Geldanlagen ran.«
»Eine Menge Kohle«, sagte der Kahlköpfige.
»Vergiss es«, antwortete der andere und nahm das Skalpell wieder auf. »Das Geld würde uns verraten und uns von unserem von Gott gegebenen Auftrag abbringen.«
»Hör mir mit dem Gelaber auf! Gott? Scheiß auf deinen Gott. Wo war er denn damals? Ich kann es dir sagen. Er war in der Sakristei, wo sein Platz ist, und schaute zu. Und? Hat uns dein Gott geholfen? Nein, hat er nicht. Wahrscheinlich hat er sich beim Zusehen sogar einen runtergeholt, dein Gott.« Pure Verachtung war aus der Stimme zu hören. Radecke spürte, dass dies seine Chance sein könnte.
»Ihr könnt mich hierbehalten, bis ihr alles Geld habt. Ich schwöre bei Gott, dass ich euch nicht an die Bullen verrate.«
Der Faustschlag landete direkt auf seinem Mund. Radecke schrie auf. Er spürte sofort, dass seine Oberlippe aufgeplatzt war und sich Blut in seinem Rachen sammelte.
Der Kahlköpfige erhob drohend die Faust. »Du Dreckskerl, nimm nie mehr das Wort Gott in dein verfluchtes Maul. Wenn du das noch einmal tust, bist du tot!«
Radecke schluckte das Blut hinunter. Er wollte es nicht herausspucken, da er befürchtete, es könnte seine Peiniger noch mehr in Rage bringen. Am liebsten hätte er es dem Kahlköpfigen mitten ins Gesicht gespuckt. Er hatte den Mann unterschätzt. Einen kurzen Moment hatte er gedacht, dass er ihn gegen den anderen ausspielen könnte. Jetzt wusste er, dass beide, jeder auf seine Art, grausame Mörder waren, die einen perfiden Plan gefasst hatten, von dem sie nicht oder nur schwer abzubringen waren. Aber Radecke gab nicht auf. Er hatte die Gier in den Augen des Kahlköpfigen gesehen.
»Entschuldigung, ich wusste nicht, dass …«
»Halt’s Maul!«, befahl der Mann mit dem Skalpell.
»Komm, wir gehen nach nebenan«, herrschte er den anderen an und legte das Skalpell neben Radecke auf den Tisch. »Ich muss mit dir reden.«
Die beiden verließen den Raum. In Radeckes Hirn brodelte es. Würden sie auf sein Angebot eingehen? Was, wenn er ihnen sein gesamtes Vermögen übereignete und sie ihn danach trotzdem töteten? Es war seine einzige Chance, und nur dadurch konnte er Zeit gewinnen. Daniel Weiß hatte bestimmt schon Vermisstenanzeige erstattet. Als sein Ehemann hatte er eine Bankvollmacht. Bewegungen auf seinen Konten würde er sofort bemerken und die Polizei verständigen. Die Bullen sind nicht dumm. Bei größeren Beträgen würden sie
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