Die Sünde
Verdacht schöpfen und den oder die Geldabheber dingfest machen. Dann wäre es nur noch eine Frage der Zeit, bis man ihn befreien würde.
Radecke überlegte, ob er beten sollte. Das hatte er schon lange nicht mehr getan. Eigentlich seit seiner fristlosen Entlassung aus dem Priesteramt und seiner damit verbundenen Exkommunizierung nicht mehr.
»Vater unser, der du bist im Himmel, geheiligt werde dein Name, zu uns komme dein Reich, dein Wille geschehe, wie im Himmel, so auf Erden …« Radecke unterbrach abrupt. War es vielleicht Gottes Wille, dass er für alle seine an wehrlosen Jungen begangenen Sünden bereits in seinem irdischen Leben bestraft wurde? Gab es tatsächlich so etwas wie eine Strafe Gottes auf Erden, die ihn nun heimsuchte, indem man ihn nach und nach verstümmelte, um ihn am Ende auf grausame Weise zu töten?
Otte hatte ihm damals erzählt, dass sich einer seiner Ministranten, den er dem Tauschring zur Verfügung gestellt hatte, vor den Zug geworfen habe. Sowohl die Eltern des Buben als auch die Polizei hatten an einen Unfall geglaubt. Aber Otte wusste, was den Jungen dazu getrieben hatte. Und obwohl er das wusste, machte er weiter, immer weiter. Alle machten weiter. Keiner stieg wegen des toten Kindes aus. Bis …
… er war in die Diözese einbestellt worden. Den Grund teilte man ihm nicht mit. Erzbischof Clemens Mauritz empfing ihn in seinem Audienzzimmer. Sie kannten sich gut. Der mit 56 Jahren noch relativ junge Bischof dozierte über längere Zeit in Priesterseminaren. Er war nicht nur wegen seiner Größe und der auch unter der langen Soutane gut zu erkennenden athletischen Figur eine imposante Erscheinung. Seine Ausstrahlung und Wirkung auf Menschen war bereits legendär. Dazu verhalf ihm ein geradezu biblisch aussehendes Gesicht, das Güte, aber auch Entschlossenheit verriet. Das violette Pileolus trug er irgendwie anders als alle anderen hochgestellten Kleriker. Die Art, wie er damit seine immer noch vollen, schwarzbraunen Haare bedeckte, war schwer zu beschreiben. Es saß etwas schräg auf seinem Kopf und weiter vorn als bei seinen Glaubensbrüdern. Dennoch ragte eine sanft geschwungene Welle deutlich über seine Stirn.
Erzbischof Mauritz haftete der Ruf eines linientreuen Hardliners an, der die Meinung und Interessen des Vatikans innerhalb seines Bistums vehement und dennoch mit viel diplomatischem Geschick durchsetzen konnte. Wegen dieser besonderen Eigenschaften traute man ihm zu, dass ihm eines Tages die allerhöchsten Würden zuteilwerden könnten.
Seine Exzellenz redete nicht lange um den heißen Brei herum. In kurzen Sätzen machte er klar, dass er über alles Bescheid wusste. Er ließ keine Erklärung oder Rechtfertigung zu. Warum auch. Es gab keine. Schon gar keine Rechtfertigung.
»Sie sind mit sofortiger Wirkung von Ihrem Priesteramt entbunden. Außerdem sind Sie mit dem heutigen Tag exkommuniziert.« Die Stimme des hohen Vorgesetzten ließ nicht den geringsten Einspruch zu.
»Wenn Sie gegen die Entscheidung der Erzdiözese Widerspruch einlegen wollen, liefern wir Sie einem weltlichen Gericht aus. Die gleiche Maßnahme erfolgt, wenn uns zu Ohren kommt, dass Sie weiter Kinder missbrauchen oder Dritten gegenüber von Ihren Verbrechen gegen die Kirche und gegen die vielen unschuldigen Kinder erzählen. Wir gehen nicht davon aus, dass Sie jemals so dumm sein werden, dies zu tun.«
Der Bischof nahm hinter seinem riesigen, aus schwerem Eichenholz bestehenden Schreibtisch Platz. Er schlug eine schwarze Mappe auf und unterzeichnete ein darin befindliches Schriftstück. Anschließend hielt er es ihm entgegen. Es war die Entlassungsurkunde. Ohne aufzuschauen und mit abgrundtiefem Ekel in der Stimme, jede Diplomatie außer Acht lassend, sagte der hohe Würdenträger zu ihm: »Sie haben der Kirche auf schlimmste Art und Weise geschadet. Gehen Sie mir aus den Augen. Ich möchte Sie nie wieder zu Gesicht bekommen.«
Als wolle er sich vergewissern, dass sie niemand belauschte, schaute sich Erzbischof Mauritz um und fuhr, die Stimme langsam anhebend, fort: »Der Satan möge sich Ihre schwarze Seele holen, je früher, desto besser.« Beim letzten Satz erhob er sich. Mit vor Wut zitternder Hand zeigte er in Richtung Tür. Er schrie so laut, dass seine Halsadern dick hervorquollen: »Hinaus, Sie Missgeburt der Hölle!«
Der Kindertauschring war zerschlagen. Alle Beteiligten waren froh, dass man sie nicht der Polizei auslieferte. Keiner fragte nach dem Warum. Einer von ihnen musste
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