Die Suenden der Vergangenheit
Irgendwann hatte sie es dann begriffen.
Er war nur Undercover für sie zuständig und nicht ihr persönlicher Chauffeur.
Doch es war ihr wichtig gewesen, herzukommen. Außerdem war es im Museum angenehm kühl, sodass sie sich rasch erholte. Angebotene Erfrischungen schlug sie trotzdem höflich aus. Sie hatte immer noch keinen Durst. Die kleine Wartezeit tat ihr somit sehr gut. So hatte sie nicht nur Zeit, zu Atem zu kommen, sondern auch ihre Gedanken zu sortieren. Mrs. Avery war eine einflussreiche Persönlichkeit und sehr erhaben, wenn man den Briefen ihrer Mutter glauben wollte. Außerdem hatte Gloria sie ja im Krankenhaus gesehen. Nur kurz und doch... es hatte ausgereicht, um ihr zu verstehen zu geben, wer die Macht besaß.
Und genauso viel Liebe.
Gloria zitterten die Knie. Sie ging einen Schritt schneller, hielt das Album und die Blumen ganz fest auf einer Seite im Arm, sodass sie die Hand frei hatte, um an Morrigans Bürotür zu klopfen. Alles hier war sehr erlesen und geschmackvoll eingerichtet. Nichts war alt und mit dem typischen Museumsmief belastet, den Gloria in manch anderen New Yorker Einrichtungen gespürt hatte, wenn die Schule zu einer Exkursion aufbrach oder in den Klassen Projektwochen abgehalten wurden. Sie fühlte sich hier wohl. In diesen Räumlichkeiten wäre sie gerne groß geworden und auf Entdeckungsreise gegangen. Nun ja, vielleicht sah sie das Ganze ein bisschen zu verklärt. Vielleicht wäre ihre Beziehung zu Morrigan von Anfang an gespannt gewesen, sobald sie gewusst hätte, wer sie war. Andererseits hätte man sie hier niemals belogen und jetzt, wo sie frei wählen konnte, in welche Gesellschaft sie sich als nächstes begab, wählte sie die der einstmals besten Freundin ihrer Mutter.
Sie war nicht so dumm zu glauben, Mathilda könnte von einem Tag auf den anderen Einsicht zeigen. Und unbewusst hoffte Gloria darauf, jemanden zu finden, der ihr half, die richtige Entscheidung zu treffen, zu der sie allein nicht fähig war.
Morrigans Gesicht wurde noch unnahbarer, als sie an die Augenblicke dachte, als sie die süße Kleine in den Armen gehalten hatte und Gloria ihr Blut in sich aufgenommen hatte. Untrennbar miteinander verbunden . Doch nur ihr Herz war beinahe daran zerbrochen, sie verloren zu haben. Das Baby war noch zu klein gewesen, um sich an sie zu erinnern. Ihr unbewegter Blick hob sich zu der eintretenden Gloria an, die gerade zaghaft an ihre Tür geklopft hatte. Sie nahm jede Kleinigkeit an ihr mit der Schärfe wahr, die ihr beinahe die Tränen in die Augen trieb.
Deirdres Augen und Lawrence’ Wesen kombiniert in einer neuen, perfekten Hülle, die jemand sträflich vernachlässigt hatte. Sie erkannte beide Eltern in dem Mädchen, als wären sie in ihr miteinander verschmolzen.
„Treten Sie ruhig näher… Gloria. Wir sind uns zwar vollkommen fremd, doch ich war als Ihre Patentante bestimmt, so dass ich denke, wir können uns bei den Vornamen nennen. Ich bin Morrigan, Ihre Mutter und ich waren damals gut befreundet. Bitte nehmen Sie doch Platz.“
Mit einer eleganten und doch sparsamen Handbewegung wies sie ihren Gast einen bequemen und sehr antiken Stuhl zu, der vor ihrem Schreibtisch stand.
Die leiseste Andeutung eines Lächelns umspielte ihre Mundwinkel und ihre Augen blickten groß und beinahe hypnotisch die junge Frau an, die ihre Ziehtochter hätte werden sollen. Niemals hätte sie Gloria ihre Eltern oder ihre Wurzeln vergessen lassen. Das gehörte doch zum Aufziehen eines Kindes dazu. Morrigan senkte langsam die Lider und hob sie wieder an, so dass man es kaum als Blinzeln bezeichnen konnte. Sie wollte einfach ihre Gedanken ruhig halten und zwang sich, nicht zu lesen, was in der jungen Frau vorging. Das Gespräch sollte auf Glorias Niveau stattfinden, da sie bestimmt nicht hergekommen war, um von ihren Fähigkeiten seziert zu werden.
Gloria zuckte beim Anblick der eleganten Person hinter dem Schreibtisch trotz der höflichen Begrüßung erst einmal zurück. Es war die erste Gelegenheit, sie ohne Delirium und tränenverschleierte Augen ansehen zu können. Morrigan war so eindrucksvoll. Perfekt und ein klein wenig unnahbar. Wie eine Statue aus Marmor. Das Weiß ihrer Kleidung unterstrich ihre respekt- und befehlsgewohnte Persönlichkeit. Gloria verlor fast den Mut, mit ihr zu sprechen.
Was hatte sie denn erwartet? Umarmt zu werden wie ein Familienmitglied? Oder zumindest etwas mehr Herzlichkeit, wo die Frau sie doch hätte adoptieren wollen und mit ihrer Mutter
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