Die Suenden der Vergangenheit
Flüssigkeit ihre Zunge benetzte und sich einen Weg in ihre Kehle bahnen wollte, die sich immer noch wie zugeschnürt anfühlte. Schlucken war kaum möglich. Es tat zu weh, doch Gloria würgte tapfer ein paar Tropfen herunter, die Nico ihr einflößte. Sie war so dankbar, dass die anderen gekommen waren. Romy, Nico und sogar Cat. Sie war so erleichtert darüber, dass man sie rechtzeitig gefunden und aus dem tödlichen Griff ihrer Tante befreit hatte. Sie musste schon wieder weinen. Diesmal allerdings nicht aus Angst, sondern aus der Erlösung und des Überlebensgefühls heraus.
Warum schienen ihre riesig wirkenden Augen zum wiederholten Mal zu fragen, doch sie würde die Antwort darauf wohl niemals erfahren.
° ° °
Das Heilige Land, 1431
„Frag die Runen, Avia. Frag die Runen.“
Das kleine Mädchen mit dem kastanienroten Lockenschopf war gerade einmal groß genug, um mit ihren kleinen Händen die Kante des steinernen Altars zu erfassen, vor dem ihre wunderschöne Großmutter in weiten, blauen Priestergewändern hockte und mit schicksalsschwangerem Blick ein paar selbstgeschnitzte, rußgeschwärzte Holzsteinchen in beiden Händen wog, die mit einem leisen Klackern Würfeln gleich in eine ebenfalls hölzerne Schale fielen.
„Was sagen sie? Was sagen sie? Werde ich eines Tages eine große Devena sein?“
Das kleine Mädchen hopste ungeduldig von einem Fuß auf den anderen. Sie hatte ihre Schuhe vergessen. Eigentlich war es verboten, den Altarsaal ihres Hauses barfüßig zu betreten. Es war unrein. Ihre Großmutter würde sie dafür wohl wieder mit dem Stock prügeln. Aber vielleicht würde sie es ja gar nicht bemerken. So vertieft wie sie auf die Steinchen starrte und dann mit einem ihrer zarten, langen Finger die Motive Runen so drehte, das sie gut lesbar waren und einen Sinn ergaben. Ein Sinn, den das kleine Mädchen nicht verstand, aber schon sehr bald verstehen lernen würde.
„Schweig still!“
Die Großmutter, deren Schönheit und Jugend seit Jahrhunderten nicht welkte, holte aus und traf ihre neugierige, kleine Enkelin direkt unterhalb des Kinns. Sofort füllten sich deren Augen mit Tränen, als sie sich durch den Schlag nicht nur heftig auf die Zunge biss, sondern auch noch hart auf dem fest gestampften Boden landete. Natürlich sah man jetzt unter dem Kleid ihre nackten Füßchen. Automatisch duckte sie sich vor den nachfolgenden Schlägen, doch nichts dergleichen geschah.
Stattdessen vernahm sie ein spöttisches Lachen. Ihre Großmutter lachte? Das tat sie nie und selbst wenn sie über sie lachte, so war es doch etwas Besonderes. Ihre Großmutter galt als allwissend. Sie war das Oberhaupt ihres Hauses. Sie hatte das Sagen. Alle anderen außer dem Mädchen nannten sie Devena. Eines Tages würde das kleine Mädchen diesen Titel ebenfalls tragen. Das wusste sie schon, denn ihre Mutter war kurz nach ihrer Geburt gestorben und sie musste von Anfang an lernen, was es bedeutete, ihrer Großmutter zu Diensten zu sein. Als Devena hatte man ernst zu sein und seine Aufgaben wichtig zu nehmen. Da war kein Platz für Gelächter.
„So? Du willst also wissen, was die Steine sagen, Mathilda, Tochter von Mahaut?“ Die Devena sprach sanft und leise, als hätte es den Schlag nie gegeben.
Wieder erfolgte ein kichernder Laut, so hell wie Glas und lieblich wie die Sonne. Ihre Großmutter verstand es, mit ihrem Charme zu bestechen. Doch Mathilda war auf der Hut. Ganz langsam und vorsichtig öffnete sie die kleinen Augen und sah sich direkt mit dem Blick ihrer Großmutter konfrontiert, die sich riesig groß gemacht zu haben schien und sich über den halben Altar hinweg zu ihrer Enkeltochter herunterbeugte. Zumindest erschien sie Mathilda wie eine Riesin mit flammenden Augen, da sie zu Trugbildern fähig war, die den Verstand des kleinen unschuldigen Mädchens schier überforderten.
„Sie sagen, meine Zeit ist noch nicht abgelaufen.“
Schläge würde es keine mehr geben, aber das Mädchen wurde mit festem Griff auf die Füße zurückgezerrt. Es hörte, wie die Schale mit den Runensteinen achtlos beiseite gefegt wurde, um ihrem kleinen Körper auf dem Altar Platz zu machen. Wenn sie sich wehrte, würde es nur noch schlimmer werden, also ließ sie sich einfach hinlegen, damit ihre Großmutter von ihr trinken konnte. Mathilda war für sie die Quelle ihrer Jugend und das kleine Mädchen, die eines Tages zweifellos eine große Devena sein würde, wünschte sich, dass die Steine ganz bald verkünden würden, das ihre
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