Die Sünden meiner Väter: Roman (German Edition)
als die der andern, zogen eigentlich alle über ihn her. Seine schulischen Leistungen waren eher durchschnittlich, am besten war er in Französisch, aber selbst da nicht herausragend. Das erste Jahr, als ich ihn noch nicht näher kannte, habe ich ihn für einen der armen Stipendiaten gehalten, weil er so … na ja, eben arm wirkte. Wir wussten, dass er keine Mutter hatte, und nahmen an, sie wäre tot. Bei seiner Geburt gestorben, hieß es. Und Olivers Dad sei angeblich nie mit ihr verheiratet gewesen. Oliver selbst sprach nie von seiner Mutter, aber manches wusste man auch so. Obwohl wir natürlich nie nachgefragt hätten. Das war so ähnlich wie bei Simon Wallace, von dem alle wussten, dass er adoptiert war, obwohl es niemals laut gesagt wurde.
Von seinem Vater sprach Oliver hingegen oft, stets mit Stolz und Respekt. Ich kann mich nicht mehr genau erinnern, was sein Vater gemacht hat, aber irgendwas in der Kirche, Finanzverwalter des Erzbistums oder sowas in der Art. Mich hat das überrascht, dass Olivers Dad so eine wichtige Position haben sollte und seinen Sohn gleichzeitig so vernachlässigte, ja, sich nicht einmal für ihn zu interessieren schien. Was ich aber noch viel schockierender fand, war die Tatsache, dass Oliver einen Bruder hatte. Genauer gesagt war Philip sein Halbbruder, ein blasser, blonder Hänfling, ungefähr sieben Jahre jünger als er. Der Kleine lebte zu Hause und ging bei uns auf die Grundschule. Ich habe die beiden nie wirklich miteinander reden sehen. Hätte ich es nicht gewusst, wäre ich nie auf den Gedanken gekommen, dass sie verwandt sind, geschweige denn Brüder. Das Allerschlimmste war aber, dass Olivers Zuhause nicht mal eine Meile von der Schule entfernt lag, ihm aber der Zutritt verboten zu sein schien. An Weihnachten und in den Ferien ist Oliver auf jeden Fall immer im Internat geblieben. Von einem der Fenster im oberen Korridor, gleich neben dem Chemielabor, konnte man Olivers Haus sehen. Ich weiß nicht, wie oft ich ihn da gefunden habe, wie er auf der Fensterbank hockte und mit meinem Fernglas seine Familie beobachtet hat. Im Nachhinein kommt mir das alles noch viel tragischer vor als damals. In der testosteronlastigen Welt eines Jungeninternats gab es keinen Platz für Mitleid oder Gefühlsduseleien. Da leckte man seine Wunden nicht, sondern lernte, sie zu verstecken.
In meinem zweiten Jahr auf der Schule haben wir uns dann angefreundet. Eigentlich hat es sich eher so ergeben, als dass es eine klare Entscheidung gewesen wäre. Alle anderen hatten eben schon Freunde, und wir beide waren irgendwie Außenseiter, mit denen niemand sonst etwas zu tun haben wollte. Es war, als könnten mein Feuermal und Olivers offensichtliche Vernachlässigung ansteckend sein. »Die zwei schrägen Vögel« hat er uns genannt. Wir gehörten weder zu den Anführern noch zu den Langweilern und Muttersöhnchen; im Grunde haben wir zu gar keiner bestimmten Gruppe gehört. Unsere Methode war es, uns so lange an irgendeine Gruppe dranzuhängen, bis wir da in Ungnade gefallen und weitergezogen sind. Eigentlich gar nicht so schlecht. Wir kamen gut klar. In unserer Freundschaft hat meistens Oliver den Ton angegeben, aber das war mir gerade recht. Im Prinzip habe ich gemacht, was er wollte, aber das war kein Problem, weil er kaum mal ein Risiko eingegangen ist oder gegen die Regeln verstoßen hätte. Ich habe seinetwegen nie Ärger bekommen. Mein Auge hat er mit keinem Wort erwähnt, und ich hielt es genauso mit seiner Mutter. Das reichte uns damals als Grundlage einer guten Freundschaft.
Oliver war neugierig auf meine Familie, hat mich andauernd gebeten, Geschichten von zu Hause zu erzählen, und selbst irgendwelche dummen Anekdoten aus meinen Ferien konnte er immer wieder hören. Weil er keine Mutter hatte, wollte er alles über meine wissen, so kam es mir vor.
Olivers Vater kam vielleicht einmal im Jahr zu Besuch. Vielleicht auch nur alle anderthalb Jahre. Schon Wochen vorher war Oliver immer das reinste Nervenbündel, hat alles daran gesetzt, seine Noten noch irgendwie zu verbessern und bloß keinen Ärger zu bekommen. Er schien sich darauf zu freuen und gleichzeitig graute ihm davor. Wenn meine Mutter oder die Eltern der anderen zu Besuch kamen, brachten sie ihren Sprösslingen immer Geschenke mit, meistens kleine oder größere Fresspakete. Besonders coole Eltern verschenkten sogar Wurfpfeile, Wasserpistolen, Steinschleudern und dergleichen mehr, womit sich überschaubares Unheil anrichten
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