Die Sünden meiner Väter: Roman (German Edition)
eines Blickes gewürdigt zu haben. Ich merkte, wie unangenehm Pater Daniel das war und wie leid es ihm für mich tat. Das distanzierte Verhalten meines Vaters versuchte er mit Humor zu überspielen.
»Viel beschäftigter Bursche, dein Dad, was?«
Von Pater Daniel habe ich auch erfahren, dass ich einen jüngeren Bruder habe. Philip wurde ein Jahr, nachdem mein Vater Judith geheiratet hatte, geboren. Er ist blond wie seine Mutter. Als er älter wurde, besuchten wir sogar dieselbe Schule, er als Tagesschüler die Grundschule, ich als Internatsschüler die Oberstufe. In gewisser Weise habe ich ihn aufwachsen sehen; von einem der oberen Fenster konnte ich das Haus meines Vaters ausmachen. Mit Stanleys Fernglas, das ich eigentlich dauernd in Beschlag hatte, machte ich mich daran, die neue Familie meines Vaters auszukundschaften. Ich sah meinen kleinen Bruder, wie er im Haus meines Vaters ein- und ausging, sah Judith bei der Gartenarbeit, sah, wie sie alle zusammen in der Auffahrt standen und das neue Auto meines Vaters bewunderten. Ich beneidete und bedauerte Judith und Philip in gleichem Maße. Sie taten mir leid, weil sie ihr Zuhause mit einem solchen Tyrannen teilen mussten, und ich beneidete sie darum, dass sie einander hatten.
Schulsportfeste waren eine ganz besondere Qual. In den ersten Jahren, als ich noch glaubte, mein Vater würde tatsächlich kommen, habe ich schon Wochen vorher alles gegeben. Jeden Tag bin ich extra früh aufgestanden, um länger trainieren zu können. Wenn mein Vater auch meine schulischen Leistungen nicht zu würdigen wusste, so würde er sich bestimmt von meinem sportlichen Ehrgeiz beeindrucken lassen. Die ersten Jahre wurden meine Mühen mit Medaillen und Auszeichnungen belohnt, aber mein Vater hat sich nie blicken lassen.
Dafür fielen die Familien der anderen Jungen in die Schule ein, die Mütter ordentlich aufgedonnert und so stark parfümiert, dass es einem Tränen in die Augen trieb, die Väter mit ihren auf Hochglanz polierten Autos. Dazu schmollende oder aufgekratzte Geschwister, Babys in Pastellfarben, überall Lärm und Gelächter und Geschrei. Ganz zu schweigen von den unzähligen Umarmungen, dem zärtlichen Haarezausen und den mannhaften Handschlägen. Auf die Sportveranstaltungen folgte ein großes Picknick, bei dem alle mit ihren Familien beisammensaßen. Um mich von der Tatsache abzulenken, dass ich niemanden hatte, betraute Pater Daniel mich an diesen Tagen mit Aufgaben von »großer Wichtigkeit«. Selbst wenn ich keine Medaille gewonnen hatte, fand er immer Gelegenheit, mich ganz ausdrücklich zu erwähnen. Ich allerdings gab die Hoffnung nicht auf, dass mein Vater sich doch eines Tages meiner entsinnen würde. In meiner Fantasie fiel es ihm wie Schuppen von den Augen, dass er sich all die Jahre in mir getäuscht hatte und dass ich doch kein schlechter Junge war. Er würde in die Schule kommen und mich abholen, damit ich bei ihm zu Hause leben könnte, und würde mir jeden Tag sagen, dass er sich gar keinen besseren Sohn hätte wünschen können.
Man kann sich meine Freude vorstellen, als ich in meinem vorletzten Jahr in St. Finian’s meinen Vater tatsächlich in seinem schwarzen Mercedes vorfahren sah. Judith begleitete ihn, und ich dachte noch, dass sie das kurze Stück eigentlich auch zu Fuß hätten gehen können. Wahrscheinlich war das Auto aber ein Statussymbol und musste gezeigt werden. Als sie unten auf dem Parkplatz anhielten, rannte ich mit klopfendem Herzen die Auffahrt hinunter. Ich wagte kaum zu hoffen, dass mein Wunsch Wirklichkeit geworden war. Meine Freude wich bitterer Enttäuschung, als ich Philip hinten aus dem Wagen klettern sah. Natürlich war mein Vater seinetwegen hier, wegen Philip. Meine Schritte verlangsamten sich, und mitten auf dem Weg blieb ich stehen und wusste nicht, ob ich einfach umkehren sollte oder nicht. Doch es war zu spät. Mein Vater hatte mich schon gesehen. Er nickte mir kurz zu und hob die Hand. Erst dachte ich, er wolle mich herbeiwinken, doch im selben Augenblick schaute er zu Judith hinüber, und was eine Geste des Willkommens hätte sein können, wurde zu einem Zeichen, dass ich verschwinden sollte. Ich war in ihrer Gesellschaft nicht erwünscht. Den Rest des Tages täuschte ich Übelkeit vor und harrte bis zum Ende der Feierlichkeiten auf der Krankenstation aus.
Im Jahr darauf berief ich mich auf Prüfungsstress und nahm gar nicht erst an den Wettkämpfen teil. Ich blieb den Tag über im Lesesaal und versuchte, den ganzen
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