Die Sünden meiner Väter: Roman (German Edition)
Bewunderung; auf jeden Fall war ich geradezu erleichtert, als mein Vater mich noch während der Ferien zurück ins Internat beorderte. Stanley war Zeuge meiner Armut und meiner Einsamkeit, und manchmal schien es mir, als wisse er mehr über meine Umstände, als ich ihm anvertraut hatte. Das war mir ausgesprochen unangenehm, weshalb ich auch keine großen Anstrengungen unternahm, nach der Schule mit ihm in Kontakt zu bleiben. Ich meldete mich erst wieder, als meine Bücher ein Erfolg wurden und ich den Beweis hatte, kein Versager zu sein. Doch inzwischen waren Jahre vergangen, und außer der Schulzeit gab es wenig Gemeinsamkeiten.
Einmal, vor vielen Jahren, fuhr ich zu einem Treffen mit einem Publizisten in die Stadt. Ich war recht früh dran, und da es ein herrlich warmer Sommertag war, beschloss ich, noch einen Spaziergang durch St. Stephen’s Green zu machen. Als ich am Kinderspielplatz vorbeikam, sah ich Stanley, wie er einen kleinen Jungen auf einer Schaukel anschubste. Die Ähnlichkeit zwischen den beiden war verblüffend, wenn auch dem kleinen Jungen das Feuermal seines Vaters erspart geblieben war. Stanley mochte älter sein, sein Haar zeigte schon erste graue Strähnen. Doch trug er es immer noch so, dass es ihm weit in die Stirn fiel, in dem vergeblichen Versuch, das Mal zu verbergen.
Die beiden schienen ganz in ihrer eigenen Welt versunken. Stanley konnte kaum den Blick von dem Jungen lassen, und sie bemerkten den fremden Mann gar nicht, der ihnen voller Neid zusah. Der Junge warf seinen Kopf zurück und lachte hell auf, als er sich immer höher hinaufschwang. Nichts hätte ich mir sehnlicher gewünscht, als an seiner Stelle zu sein; mir nur einen Moment lang der Liebe und Aufmerksamkeit eines Vaters gewiss zu sein. Jäh bremste der Junge ab, indem er seine kleinen Sandalen in den Kies grub. Dann sprang er mit einem Satz von der Schaukel und rannte zu einer rothaarigen Frau, die auf einer Bank saß. Mit geschminkten Lippen lachte sie ihm entgegen, fing ihn in ihren Armen auf, und er vergrub sein Gesicht in der weichen Beuge ihres Halses. Ich fühlte nichts als Neid.
Hinter mir vernahm ich ein lautes Räuspern, drehte mich um und sah den Parkwächter mich mit finsterem Blick mustern. Mir war klar, wie es aussehen musste – ein Mann, allein, bei einem Kinderspielplatz. Wahrscheinlich hielt er mich für einen Perversen, und ich dachte kaum besser von ihm, wie er sich hier den ganzen Tag in seiner schmuddeligen Uniform herumtrieb. Aufgebracht verließ ich den Park und kehrte nur noch kurz in Peter’s Pub ein, um mir einen Jameson zu genehmigen und meine fahrigen Hände vor dem Termin zur Ruhe zu bringen.
Vielleicht hätte ich mit Alice Kinder haben sollen. Doch ich wusste, dass jedes Kind mich immer nur an einen kleinen französischen Jungen erinnern würde, einen charmanten, verschmitzten Jungen, der so lange schon tot war. Vielleicht hätte ich sogar für Alices Bruder Eugene eine Vaterfigur sein können. Nur brachte ich es irgendwie nicht über mich. Wenn mein Vater mich, einen kräftigen, gesunden, gut aussehenden und erfolgreichen jungen Mann, mit solcher Vehemenz abgelehnt hatte, was hätte er dann von einem übergewichtigen Geistesgestörten wie Eugene gehalten? Er hätte ihn verachtet.
XI
EUGENE
Patientenbericht
vom 17.12.1987
Patient Nr. 114 (Eugene O’Reilly)
Wohn- und Pflegeheim St. Catherine’s
Name: Eugene O’Reilly
Datum der Aufnahme: 22.07.1987
Geburtsdatum: 17.05.1959
Körpergröße: 172 cm
Gewicht: 105 kg
Haarfarbe: braun
Augenfarbe: blau
Beurteilung der geistigen Kapazität des Patienten:
Eugenes intellektuelle Fähigkeiten sind begrenzt; sein mentales Alter muss in etwa auf das eines Sieben- oder Achtjährigen geschätzt werden. Eugene kann weder lesen noch schreiben, beschäftigt sich aber gern mit Büchern und besitzt selbst einige, die ihm sehr viel bedeuten. Beim Ankleiden braucht er Hilfe (Knöpfe, Schnürbänder). Er kann selbständig essen, sollte bei den Mahlzeiten jedoch nicht unbeaufsichtigt bleiben, da er so lange unkontrolliert Nahrung zu sich nimmt, bis man ihm das Essen wegnimmt. Seine Toilettengänge kann er meist ohne fremde Hilfe verrichten. Fernsehen interessiert ihn kaum, aber er hört gern Musik, wobei seine körperlichen Reaktionen so stark sein können, dass es die anderen Patienten erschreckt. Eugene ist sich seiner eigenen Größe und seiner Körperkraft nicht bewusst.
Eugene O’Reilly wurde im Juli dieses Jahres von seinem Schwager Oliver
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