Die Sünden meiner Väter: Roman (German Edition)
Maschine schreiben. Er meinte, seine Geschichten dürsteten nach Tinte.«
Wie groß war meine Fassungslosigkeit, wie ungläubig mein Entsetzen, als Alice mir im Laufe des Abends noch weitere von Papas Geschichten erzählte. Die Namen der Figuren und die Orte waren andere, und aus Papas böser Hexe war eine böse Königin geworden, doch die Geschichten waren zweifellos dieselben.
Ich glaube ja, dass die Wahrheit bisweilen schwerer zu ertragen ist als Lügen oder Unwissenheit. Manche Geheimnisse wären besser nie zutage gekommen. Die Wahrheit ist so simpel, die Faktenlage klar. Oliver hatte Papas Geschichten gestohlen. Ich konnte ihm nichts nachweisen. Die Geschichten existierten nur noch in der von Oliver verfassten Reinschrift. Alle, die sich – außer mir – an die handschriftlichen Originale hätten erinnern können, waren längst tot.
Oliver hat diese Bücher unter einem Pseudonym veröffentlicht: Vincent Dax. Mir fehlen die Worte ob dieser geradezu sinistren Geste. Da ich keine Kinder mehr hatte, habe ich nie eins seiner Bücher gekauft; Pierres Mädchen waren keine großen Leserinnen. Im Internet habe ich jetzt gesehen, dass um Prinz Felix, oder Prinz Funkelstern, wie er in Olivers Version heißt, eine richtige Industrie entstanden ist: Filme, Musicals, Fanartikel. Oliver hat an meinem toten Vater Millionen verdient und seine Ehre und sein Andenken in den Staub getreten.
Diese Enthüllungen setzten seiner Frau verständlicherweise sehr zu. Wir haben noch bis in die frühen Morgenstunden geredet. Wie ich Alices Worten entnahm, waren es Papas Geschichten, deretwegen sie sich überhaupt erst in Oliver verliebt hatte. Was soll man dazu sagen? Er teilte sich seinen Vorrat klug ein, veröffentlichte nie mehr als eine Geschichte im Jahr, manchmal ließ er auch längere Zeit verstreichen, sodass die Prinz-Felix-Geschichten über Jahre hinweg vorhielten. Nun jedoch scheint ihm der Stoff ausgegangen zu sein, denn er hat seit fünf Jahren nichts mehr veröffentlicht. Wir haben nachgerechnet, dass er fast fünfundzwanzig Jahre damit zugebracht hat, das Werk meines Vaters zu übersetzen und als das seine auszugeben. Alice versicherte mir, dass Oliver derzeit sehr wohl an einem Buch schreibe, seinem ersten Roman für Erwachsene. Nur leide Oliver gerade an einer Schreibblockade.
Wie es aussieht, war er Alice nicht einmal ein guter Ehemann. Sie war sich sehr wohl bewusst, dass er ihr untreu gewesen sei, vermutlich sogar mit Moya, ihrer Reisebegleiterin. Er scheint seine Frau nie für voll genommen zu haben, hat ihre Arbeit geringer geschätzt als die seine und ihre Ansichten als unwichtig abgetan. Ihre Freunde waren ihm ebenso wenig genehm wie ihr geistig behinderter Bruder, den er einmal so sehr provoziert haben soll, dass der arme Junge handgreiflich geworden sei und später in ein Heim gegeben werden musste.
»Warum bleiben Sie dann bei ihm? Warum verlassen Sie ihn nicht?«
»Aber er braucht mich doch … hat mich gebraucht«, verbesserte sie sich. »Ohne mich könne er seine Geschichten nicht schreiben, hat er gesagt.«
»Und was ist mit Liebe?«
»Ich dachte, das wäre Liebe!«
Am nächsten Tag sind Alice und Moya abgereist. Moya kam einige Stunden später allein zurück. Diese alberne Person wollte ihren Mann wegen des alleinstehenden Herrn verlassen, auf den sie die letzten zwei Wochen schon ein Auge geworfen hatte. Mon Dieu , diese Iren sorgen wirklich immer für Unruhe!
Alice schrieb mir per E-M ail, dass sie einige in Leder gebundene Bücher mit den französischen Fassungen der Geschichten gefunden habe. Sie wolle Oliver deswegen zur Rede stellen, bat mich aber um ein wenig Geduld. Ich hätte mir nie träumen lassen, dass er ihr etwas antun könnte, aber als ich aus den Nachrichten erfuhr, dass Oliver wegen eines schweren Übergriffs auf seine Frau verhaftet worden sei, ahnte ich sofort, was den Anlass zu diesem Gewaltausbruch gegeben hatte: die Geschichten meines Vaters. Ich hatte das Gefühl, mich nicht länger aus der Angelegenheit heraushalten zu können, nahm Kontakt mit der irischen Polizei auf und machte eine Aussage bezüglich des Motivs für den Übergriff. Demnächst werde ich nun doch nach Irland reisen und vor Gericht als Zeugin aussagen. Olivers Anwälten zufolge wird er sich zu dem Plagiat bekennen und den Betrug nicht abstreiten. Es ist so entsetzlich, was er Alice angetan hat, dass ich mir fast wünsche, ich hätte sie nie kennengelernt. Es wäre besser gewesen, wir hätten die Wahrheit
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