Die Sünden meiner Väter: Roman (German Edition)
nie erfahren.
Die Wahrheit tut weh. Oliver hat uns alle betrogen.
Papa hat seine Geschichten nie veröffentlichen wollen. Er hat sie für mich geschrieben, und später dann für meinen wunderbaren kleinen Jungen. Es sollte mir nichts ausmachen, dass Oliver ein Vermögen damit gemacht hat. Ich weiß nicht, ob mir je der Gedanke gekommen wäre, sie eines Tages zu veröffentlichen. Wahrscheinlich nicht. Dennoch, sie gehörten mir; er hatte kein Recht darauf.
Was für ein Mensch muss Oliver sein, dass er so etwas getan hat? Nun frage ich mich, ob er meinen Vater überhaupt gemocht, ob mein kleiner Junge ihm je etwas bedeutet hat? Hat er aus einem Impuls heraus gehandelt, als er die Bücher unversehrt inmitten der zerstörten Bibliothek fand? Eine einmalige Gelegenheit, die er sich nicht entgehen lassen wollte? Oder hatte er die ganze Zeit schon heimlich Abschriften angefertigt, wohl wissend, dass wir die Geschichten niemals veröffentlichen würden? Alice hatte mir erzählt, dass Oliver ohne Mutter aufgewachsen war und zu seinem Vater schon so lange keinen Kontakt mehr gehabt hatte, dass sie selbst ihn nie kennengelernt habe. Könnte es sein, dass Oliver die Bücher, als er sie nach Papas Tod fand, als eine Art väterliches Vermächtnis ansah?
Ich habe nie vergessen, was er zu Laura gesagt hat, als sie ihm ihre Schwangerschaft gestanden hatte – dass er nie wieder Vater werden, dass er kein weiteres Kind wolle. Doch dann kommt mir der Gedanke an Lauras schwarzes Kind, an ihre Untreue, und auf einmal will nichts mehr einen Sinn ergeben. Vielleicht hat Oliver sich einfach nur eine Familie gewünscht, vielleicht wollte er sich die meine aneignen, wer weiß? Letztlich ist und bleibt er ein gemeiner Dieb.
Am Tag nach Alices Abreise bin ich natürlich sofort in die Stadt gefahren und habe mir sämtliche seiner Bücher gekauft. Die Geschichten sind ganz genauso, wie ich sie in Erinnerung hatte, doch was mich wirklich erstaunt, ja, bestürzt hat, waren Alices Illustrationen. Ihr Prinz Felix war meinem Jean Luc wie aus dem Gesicht geschnitten.
XXIII
OLIVER
Einen Monat, ehe ich mit der Schule fertig war, schickte mein Vater mir einen Scheck über fünfzig Pfund. Beigelegt war ein kurzes Schreiben mit dem Hinweis, ich solle mir eine Wohnung und einen Job suchen, da ich bald achtzehn werde und nicht länger mit Unterstützung rechnen könne.
Ich hatte keine Ahnung, was ich mit meinem Leben anfangen sollte. Pater Daniel nahm mich zu einem Gespräch beiseite, und da meine Noten recht gut waren, riet er mir zu studieren; nach dem Abschluss könne ich als Lehrer an die Schule zurückkehren. Wieder einmal kam er zu meiner Rettung. Er bot mir an, meine Studiengebühren zu übernehmen, und fand ein Zimmer für mich in Rathmines.
Es dauerte eine Weile, bis ich mich daran gewöhnt hatte, allein zu leben und mich selbst zu versorgen. Bisher war mein Leben mit militärischer Präzision organisiert gewesen. Erst jetzt wurde mir bewusst, wie sehr die Jahre im Internat mich geprägt hatten. Es fiel mir schwer, allein zu sein. Ich schrieb meinem Vater und teilte ihm meine neue Anschrift mit, erhielt aber keine Antwort. Um meinen Lebensunterhalt zu verdienen und irgendwie beschäftigt zu sein, arbeitete ich frühmorgens und an den Wochenenden auf einem Obstmarkt. Das Studentenleben gefiel mir dennoch. Fast niemand wohnte mehr zu Hause, und ich konnte vorgeben, so zu sein wie alle anderen. Meine Leistungen waren nicht herausragend, wenngleich ich in Französisch der Beste meines Jahrgangs war. Bei dem Versuch, gleichzeitig zu arbeiten und mit meinen bescheidenen Mitteln am studentischen Leben teilzuhaben, vernachlässigte ich bisweilen meine Studien, schaffte aber trotz allem respektable Noten.
Nachdem ich Gefallen an der Freiheit gefunden hatte, schien es mir undenkbar, nach St. Finian’s zurückzukehren. Auch hatte ich nicht das Zeug zum Lehrer. Laut meinen Gutachtern bin ich ungeduldig und intolerant, und das scheinen noch meine besseren Eigenschaften zu sein.
Anfang 1973 kam ich mit Laura zusammen. Die schöne, wilde Laura, die so anders war als die anderen Mädchen. Ich glaube, ich habe sie geliebt. Wären wir in jenem Sommer in Dublin geblieben, wäre vielleicht alles anders gekommen. Vielleicht wären wir dann verheiratet. Glücklich verheiratet.
Kurz vor den Prüfungen meines zweiten Studienjahres kam Laura auf den Gedanken, wir könnten den Sommer über im Ausland arbeiten. Ich hielt es nicht für mehr als eine fixe Idee,
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