Die Sünden meiner Väter: Roman (German Edition)
aber Laura schrieb Bauernhöfe, Weingüter und Konservenfabriken in ganz Europa an und bekam schließlich Antwort aus der Aquitaine. Man lud uns ein, als Erntehelfer auf einem Gut nahe einer kleinen Ortschaft namens Clochamps zu arbeiten. Es gab ein Schloss, Weinberge, Olivenhaine und Obstgärten. Das klang perfekt. Nach all den Sommern, die ich praktisch hinter verschlossenen Mauern zugebracht hatte, brannte ich darauf zu reisen, meinen Horizont zu erweitern, etwas von der Welt zu sehen. Außerdem lockte mich die Aussicht, ungestört Zeit mit Laura verbringen zu können. Fast wäre der Plan an ihren Eltern gescheitert, die trotz aller Sympathien für mich nicht damit einverstanden waren, dass wir beide allein loszogen. Doch wenn Laura sich einmal etwas in den Kopf gesetzt hatte, ließ sie sich nicht aufhalten. Kurzerhand überredete sie Michael und noch fünf andere, mit uns zu fahren. Das genügte, um in den Augen ihrer Eltern nicht mehr »allein« zu sein. Die Arbeit wurde entlohnt, Kost und Logis eingeschlossen, und Pater Daniel fand sich dankenswerterweise bereit, mir die Kosten für die Hinfahrt vorzuschießen.
Es gefiel mir vom ersten Tag an. Von meinem Job auf dem Markt war ich an körperliche Arbeit gewöhnt, und während die anderen sich am Anfang schwertaten, ging es mir vergleichsweise leicht von der Hand. Irische Sommer sind oft grau, nass und trostlos; hier schien jeden Tag die Sonne, und obwohl wir an vielen Abenden spektakuläres Wetterleuchten am anderen Ende des Tals beobachten konnten, kamen die Unwetter nie bis nach Clochamps. Während die anderen über Hitze und Sonnenbrand klagten, hatte ich mich längst akklimatisiert. Die Verpflegung war einfach, doch ausgesprochen schmackhaft, den Wein gab es umsonst, und Laura und ich fanden reichlich Zeit und Gelegenheit, um ungestört zu sein.
Der Besitzer von Château d’Aigse war ein älterer Herr, der sich bald mit mir anfreundete. Da ich Französisch in Wort und Schrift recht gut beherrschte, fungierte ich oft als Übersetzer für die anderen. Monsieur zeigte ehrliches Interesse an mir, er wollte wissen, was ich studiere, was ich mit meinem Abschluss anzufangen gedachte, welche Pläne ich für die Zukunft hatte. Nach zwei Wochen fragte er mich, ob ich vielleicht Interesse hätte, ein paar Schreibarbeiten für ihn zu erledigen. Ich willigte sofort ein und dachte an Büroarbeiten wie Rechnungen schreiben oder ein bisschen Buchhaltung. Das war auch, was er seine Tochter glauben ließ. Er bat mich um Diskretion und stockte meinen Lohn auf. Und er stellte mir seinen Enkel Jean Luc vor, das wohl wunderbarste Kind, das ich je gekannt habe.
Als ich mich im Arbeitszimmer zum Dienst meldete, traf ich dort auch Jean Luc an. Monsieur bedeutete mir, mich zu setzen; er wolle seinem Enkel eine Geschichte vorlesen. Ich war gespannt. Jean Luc kam zu mir und gab mir ganz förmlich die Hand. Ich ging vor ihm in die Hocke, sodass wir fast auf Augenhöhe waren, und erwiderte seinen Gruß mit einer kleinen Verbeugung. Lachend schaute er zu seinem Großvater auf. »Runzelstirn!«, rief er und zeigte auf mich.
Während Monsieur seine Geschichte zu erzählen begann, beobachtete ich den kleinen Jungen, wie er da auf den Knien seines Papi saß. Gebannt lauschte er den Abenteuern eines kleinen, glücklichen Jungen, der Prinz eines fantastischen Landes war. Manchmal schrie er mitten in der Erzählung auf, hielt sich die Augen zu, wenn die böse Hexe auftauchte, und klatschte vor Begeisterung in die Hände, als dem Helden am Ende die Flucht gelang. Ich erfuhr, dass »Runzelstirn« eine Figur in der Geschichte war, einer der Guten, die den Prinzen beschützten, und Vorbild für den jungen Prinzen war ganz offensichtlich Jean Luc selbst. Auch ich fand die Geschichte wunderschön, und das sagte ich Monsieur d’Aigse. Er freute sich über das Lob und erklärte mir, im Laufe der Jahre eine ganze Serie dieser Geschichten geschrieben zu haben. Allerdings lägen sie nur als handschriftliche Notizen vor, und er wisse kaum noch, wie viele Geschichten es tatsächlich seien. Seit eine Lähmung seine rechte Hand befallen habe, könne er kaum noch etwas zu Papier bringen. Meine Aufgabe, so sagte er, bestünde darin, all diese Geschichten mit der Maschine abzuschreiben und sie in ledergebundene Alben einzukleben, die er extra zu diesem Zwecke angeschafft hatte. Es müsse aber unser Geheimnis bleiben, da er befürchte, seine Tochter wäre nicht einverstanden, wenn ich nicht für Arbeiten auf
Weitere Kostenlose Bücher