Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die Suendenburg

Die Suendenburg

Titel: Die Suendenburg Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Eric Walz
Vom Netzwerk:
besonders hart getroffen, gierte ich doch nach seiner Beachtung. Seine Söhne waren ihm alles, er machte sie zu Kriegern, und meine Schwestern behandelte er anständig, weil sie ihm huldigten und auf das Wort gehorchten. Ich war anders. Ich maß mich gerne mit anderen. Wenn ich etwas besser als meine Brüder konnte, so verbot er mir, es zu tun, und wenn ich etwas schlechter als sie konnte, machte er sich vor allen darüber lustig. Aber die meiste Zeit beachtete er mich nicht. Da er meiner Mutter die Schuld an meinem Verhalten gab, was sie arg bedrückte, wurde ich ihr zuliebe folgsamer. Er hat das wohl als Sieg verstanden. Etwas später, als ich fünfzehn Sommer zählte, ist er mir näher gekommen, als ich je wollte. Er hat mich manchmal zwischen den Beinen berührt.«
    »O mein Gott.«
    Kara hielt die Handflächen nah ans Feuer, und ich tat es ihr gleich. Das feuchte Holz knackte. Ich wartete auf das Ende der Geschichte, aber ich musste nachfragen, bevor Kara fortfuhr.
    »Eines Morgens brachen mein Vater, mein ältester Bruder, der Mann meiner ältesten Schwester sowie einige andere Männer zur Jagd auf. Es war Herbst, der Nebel war dicht. Sie hatten vor, in einem nahen Wald Wildschweine zu erlegen. Doch es kam anders. Ein verirrter Pfeil durchschlug meines Vaters Kehle. Er erstickte qualvoll.«
    »Wie schrecklich.«
    »Ja. Dass der Pfeil die Zeichen meines Bruders trug und der tödliche Schuss damit auf ihn zurückgeführt werden konnte, schadete dem Ansehen unserer Familie. Man beschuldigte meinen Bruder zwar nicht, vorsätzlich auf meinen Vater geschossen zu haben, wohl aber nachlässig gewesen zu sein, als er im dichten Nebel auf ein kaum sichtbares Ziel schoss. Er verlor an Ansehen und Einfluss, und zwei Sommer später durfte ich mir den Mann, den ich fürs Leben wollte, selbst aussuchen, was bei uns eher unüblich war.«
    »Also könnte man sagen, dass der Tod deines Vaters dein Glück war.«
    »Ja«, sagte sie, »das war der Wille der Götter.«
    Diese Geschichte ließ mich nicht los. Ich konnte ihretwegen nicht einschlafen, starrte in die Dunkelheit der Kemenate und stellte mir Karas Vater vor – dem ich ein beliebiges Aussehen gegeben habe, da Kara ihn nicht beschrieben hat. Ich sah einen Mann mit schlohweißem, schütterem Haar, kräftiger Statur und von einer Stärke, die nur das Alter fürchten muss. Dann trifft ihn ein Pfeil seines Sohnes … Es ging mir nicht so sehr um die Einzelheiten, die mich beschäftigten, sondern um das große Ganze: die Ähnlichkeit der Schicksale von Kara und mir. Ihr Vater war ein kriegerischer Fürst, so auch der meine; ihr Vater erstickte an einer Verletzung der Kehle, der meine ebenso; sie ist eine Gefangene, ich bin inzwischen etwas Ähnliches; ihr Leben ist bedroht, mein Leben ist bedroht. Gewiss, es gibt Unterschiede: Ihr Vater war schlecht zu ihr, der meine war gut zu mir; der Tod ihres Vaters war ihr Glück, der Tod meines Vaters war der Beginn meines Unglücks. Es ist, als spiegele sich das Schicksal der einen im Schicksal der anderen.
    Ich verließ mitten in der Nacht meine Kemenate und ging zu Kara, um sie zu bitten, in meine Kemenate zu übersiedeln. Die Einsamkeit raubte mir fast den Verstand. Ich hatte einen Menschen nötig, der mir nahe war, und sie kam mir inzwischen wie eine Schwester vor. Ich klopfte leise, doch sie schlief bereits. Ihr Nachtlager aus zwei Fellen und einer Webdecke befand sich genau dort, wo das Mondlicht durch eine Scharte in das Gemach fiel. Karas Gesicht glänzte silbrig, als wäre es von einer Maske bedeckt.
    Ich wollte sie nicht wecken. Dass eine Schlafende mir Gesellschaft leistete, genügte mir bereits. Ich setzte mich neben sie, entzündete eine kleine tönerne Öllampe, die neben dem Lager auf dem Boden stand, warf mir eine Decke über die Schulter, zog die Beine an und wartete auf die Müdigkeit, die mich neben Kara einschlafen lassen würde. So entging mir zunächst, was mir durch den Mond, die Öllampe und die Gewöhnung der Augen an die Dunkelheit viel früher hätte auffallen können: Ich sah mit einem Mal eine Kerbe in der Wand, daraus wurde ein Wort, dann eine Zeile, dann bemerkte ich, dass eine ganze Ecke des Gemachs beschriftet war, und als ich aufstand und herumging, war ich plötzlich umgeben von einer Erzählung, die in fremder Sprache verfasst war, wie man es aus alten Grabkammern kennt, und deren Anfang und Ende ich nicht fand. Ich war überwältigt. Kara und ich, die wir gleichen Ranges und Schicksals sind, haben

Weitere Kostenlose Bücher