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Die Suendenburg

Die Suendenburg

Titel: Die Suendenburg Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Eric Walz
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einen ähnlichen, beinahe gleichen Weg gefunden, von uns zu berichten.
    Wie sehr ihr Dasein an das meine grenzt, habe ich erst da verstanden.
    Ich schlief dort ein, auf ihrem Lager inmitten ihrer Geschichte.

Kara
    In der gestrigen Nacht, in der ich Elicia von meines Vaters Tod erzählte, hatte ich einen wahren Traum.
    Es ist früher Morgen. Herbst. Nebel liegt über der Erde. Ich helfe meiner Mutter, Brot zu backen, das mein Vater, meine Brüder und die anderen Männer zur Jagd mitnehmen wollen. Als sie gegangen sind, entferne ich mich unter einem Vorwand von der Hütte. Ich folge ihnen in großem Abstand in den Wald. In der einen Hand trage ich einen Bogen, in der anderen Hand drei Pfeile, die ich zuvor aus dem Köcher meines ältesten Bruders gestohlen habe. Ich schleiche mich durch das Dickicht an. Ich ziele. Gleich der erste Pfeil trifft sein Ziel und durchbohrt meines Vaters Kehle. Er bricht zusammen, erstickt. Noch in großer Entfernung höre ich sein gequältes Röcheln.

Claire
    Dies könnten meine letzten Zeilen sein. Ich bin so schwach, dass ich kaum die Feder zu halten vermag, sie gleitet mir immer wieder aus den Fingern, und ich bin so müde, dass ich sie am liebsten nicht mehr aufnehmen würde. Ich habe gewusst, dass dieser Tag einst kommen würde, aber ich hatte gehofft, er käme mit kleineren Schritten. Meine Seele empfehle ich Gott, den ich ein halbes Leben lang innig verehrte und ein halbes Jahr lang absichtlich aus meinem Herzen verbannte. Meine Gebete gelten meinem wenige Wochen alten Sohn Richard. Ich bitte den Herrn, er möge seinen Zorn nicht gegen dieses junge Leben richten, sondern ausschließlich gegen mich, die ich schwer gesündigt habe. Seit ich von meiner Mutterwerdung wusste, bat ich den Herrn um nichts anderes mehr als um die Unversehrtheit meines Kindes, und es scheint, als würden meine Gebete erhört. Richard wurde früh und schwach, aber mit einem Überlebenswillen geboren, der ihn täglich stärker werden lässt, während ich, durch die Liebe Aistulfs zunächst stark und mutig gemacht, nun trotz dieser Liebe seit vielen Monaten schwächer werde. Angefangen vom Zerwürfnis mit Elicia, über die Unmöglichkeit, Orendel zu sehen, sowie in meiner Gemütsschwäche in der Adventszeit, die sich in Reizbarkeit und Bösartigkeit äußerte, bis hin zur schweren Geburt und der wochenlangen Agonie danach zeigt sich der göttliche Wille, mich für meine Taten zu bestrafen. Darein füge ich mich, zumal es mich nicht überrascht, und empfange in Demut den himmlischen Richterspruch.
    Mit der wenigen mir verbliebenen Kraft bringe ich zu Ende, was ich begonnen habe. Ich schrieb im Spätsommer des letzten Jahres die ersten Seiten, einzig zu dem Zweck, den Tod Agapets und das Leben Claires zu feiern. Ich wusste nicht mehr, wohin mit meinem Glück, und so war das Schreiben ein Gesang der Freude und das wiederholte Lesen des Geschriebenen dessen Echo. Auch wenn sich zwischenrein Zeilen der Traurigkeit, der Wut und des Unverständnisses mischten, so blieben doch Ursprung und Grund des Schreibens unverändert: Aistulf. Ohne ihn wäre das erste Wort nicht geschrieben worden, und ohne ihn würde ich jetzt nicht hier sitzen und mich ein letztes Mal gegen den Tod stemmen. Er hat mich an Orte geführt – Orte im Innersten meines Wesens –, an die man niemals ohne die Liebe gelangt, die keine Bedingungen kennt. Nicht in meiner Kindheit und schon gar nicht in meiner Ehe habe ich das Gefühl bekommen, zu leben, denn die Kindheit war für mich ein Zustand der Erwartung des Erwachsenwerdens, und die Ehe war für mich ein Zustand der Enttäuschung über das Erwachsensein. Meine Kinder hauchten mir immerhin ein halbes Leben ein, doch vollständig wurde es erst durch Aistulf. Gott vergebe mir, dass ich das sage: Das, was Gott mir vor dem Tag der ersten Begegnung mit Aistulf zugedacht hatte, war mir nicht genug gewesen. Daher ist es mir unmöglich, irgendetwas von dem, was ich seither getan habe, aufrichtig zu bereuen. Ich kann sagen: Es tut mir leid. Und ich muss zugleich zugeben: Ich würde es wieder tun. Wenn ich wüsste, dass im ewigen Leben dafür zehntausend Jahre Höllenqualen auf mich warteten, so wäre ich doch nicht imstande, das letzte Jahr meines Erdenlebens zu bedauern. Es war die Blüte. Manch einer wird sagen, dass es die Blüte einer giftigen Pflanze war. Das mag sein. Doch es war nichtsdestotrotz die Blüte meines Daseins und Richard deren Frucht. Noch mit meinem letzten Atemzug werde ich dafür

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