Die Suendenburg
einstehen. Denn ist es nicht gleichgültig, ob wir fünfundzwanzig, vierzig oder achtzig Jahre alt werden, wenn wir in dieser Zeit das Wichtigste im Leben entdeckt haben? Und ist es nicht gleichgültig, ob wir es zehn Tage oder zehntausend Tage behalten dürfen?
Es gilt nun, meinen Frieden zu machen. Der Preis für diese Liebe, die ich erfahren habe, besteht nicht nur aus den im Jenseits zu erwartenden Strafen, sondern auch aus diesseitigen. So habe ich mich schweren Herzens damit abgefunden, Orendel nicht wiederzusehen. Ich habe Aistulf sogar ausdrücklich verboten, nach meinem ältesten Sohn zu schicken, obwohl er es vorhatte. Noch im Januar, kurz vor Richards Geburt, war es umgekehrt. Da sagte ich zu Aistulf:
»Mit der Abreise des Vikars ist die Gefahr vorüber. Wir müssen nun nicht mehr fürchten, dass die seinerzeitige Entführung Orendels gegen mich verwendet wird. Holen wir ihn endlich auf die Burg, noch heute.«
»Ich wünschte, ich könnte dir zustimmen, Claire. Du solltest dich nämlich schonen und jede Aufregung vermeiden. Aber der Eindruck, den du von den Umständen hast, täuscht. Ich bin noch immer nicht vom Herzog bestätigt worden. Burchard schweigt, das gefällt mir nicht, und Baldur ist wachsamer denn je. Wenn er erfährt, dass Orendel lebt und auf welche Weise du ihn jahrelang von seinem Vater getrennt hast, nimmt er das zum Anlass, um aufs Neue sich gegen uns aufzustellen. Und so, wie es zwischen dir und Elicia derzeit steht, würde sie ihn dabei unterstützen, auch wenn dir dadurch großer Schaden entsteht.«
»Darauf lasse ich es ankommen.«
»Bedenke auch, dass Orendels Rückkehr bedeutet, dass er unweigerlich Graf wird. Er ist Agapets Erbe. Denke bitte nicht, dass ich ihm Titel und Macht nicht sofort mit Freuden übertragen würde, doch … Ich bin ihm begegnet, und ich muss sagen, dass mir sein Charakter nicht gefestigt erscheint.«
»Davon hast du mir nichts berichtet.«
»Ich wollte dich nicht beunruhigen. Wie du selbst weißt, hattest du um die Weihnachtszeit eine schwierige Phase, daher habe ich seine angenehmen Seiten betont und die nachteiligen verschwiegen. Ich behaupte ja nicht, dass Orendel mir unangenehm gewesen wäre. Ich sage nur, dass er mir beeinflussbar vorkommt. Er hat andauernd zu Bilhildis gesehen, als ich mich mit ihm unterhielt.«
»Das ist normal. Sie war sieben Jahre lang seine Verbindung zu mir.«
»Ich glaube, es steckt mehr dahinter.«
»Und was?«
»Das weiß ich auch nicht. Er wirkt nicht gerade klug.«
»Er ist auf andere Weise klug als du oder ich oder Elicia. Sein schöpferischer Geist ist auf Wanderschaft, er wendet sich nicht nur einer einzigen Sache zu. Das mag uns manchmal fremd erscheinen, aber wenn du ihn damals erlebt hättest, als er zwölf Jahre alt war, und wie das Gesinde ihm schon an den Lippen hing, seine Worte wiederholte …«
»Das glaube ich dir. Ich kann es nicht erklären, aber ich traue ihm kein Urteilsvermögen zu. Er wirkte auf mich wie ein Knappe, der von einem Tag zum anderen Edelmann wird. Solche Menschen sind zutiefst verunsichert. Baldur und Elicia könnten auf ihn einwirken und ihn gegen uns einnehmen.«
»Orendel wird einverstanden sein, dass ihr beiden euch Titel und Macht teilt, vielleicht wird er dir beides sogar ganz abtreten. Wie ich ihn kenne …«
»Du kennst ihn eben nicht. Aber wie du meinst. Wenn du wirklich darauf bestehst, hole ich ihn. Doch von da an liegt unser Leben in der Hand eines jungen Mannes, von dem du wenig weißt.«
Ich verschob meine Entscheidung auf den nächsten Tag, doch in der Nacht setzten die Wehen ein. Ich verlor viel Blut, die Geburt selbst erlebte ich in einem Dämmerzustand, und danach schlief ich fast eine Woche lang. Als ich erwachte, war ich so erschöpft, dass ich an nichts anderes als an meinen neugeborenen Knaben denken konnte, und selbst das nur von Zeit zu Zeit. Ich erholte mich ein klein wenig, doch nicht in dem Maße, als dass ich hätte wichtige Entscheidungen treffen können. Ich aß und betete im Liegen, und für eine Stunde am Tag ließ ich den kleinen Richard neben mich betten. In der übrigen Zeit schlief ich oder hielt schweigend Aistulfs Hand, die er mir jeden Morgen, Mittag und Abend reichte. Er erzählte mir, was in der Burg und der Grafschaft vorging, wobei er jedoch nur Angenehmes berichtete, um mich zu schonen. Ich war wach genug, ihn zu durchschauen, jedoch zu teilnahmslos, um die Wahrheit wissen zu wollen.
Die Wahrheit erfuhr ich vor einigen Tagen. Die
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