Die Suendenburg
schutzlose Unschuldige zu opfern – und dass sie an Agapets Tod schuldlos war, davon war ich überzeugt, denn es sprach viel zu viel gegen sie als Täterin. Da brach wieder der Vikar in mir durch, der Mann, der seit vielen Jahren bemüht war, Recht zu sprechen. Alles in mir sträubte sich gegen solch himmelschreiendes Unrecht.
Ich höre dich, der du diese Zeilen liest, dich empören, und ich sehe, wie du den Kopf schüttelst: Fähig, einen Unschuldigen zu ermorden, aber Gewissensbisse haben, einen Unschuldigen dieses Mordes zu beschuldigen. Wie passt das zusammen? Gar nicht. In meinem Kopf ist das eine ordentlich vom anderen getrennt und hat nichts miteinander zu tun. In meinen Augen war Baldur nicht unschuldig. Er war schuldig, mit der Frau, die ich mehr liebe als jeden anderen Menschen, verheiratet gewesen zu sein. Dass das kein Verbrechen war, das in einem Codex aufgelistet wurde, war mir gleichgültig. Baldur war am falschen Ort, nämlich an ihrer Seite. Hätte Elicia mich trotz meiner Liebe verschmäht, hätte ich Baldur kein Haar krümmen, noch nicht einmal etwas Schlechtes wünschen können. Doch wir gehören zusammen, Elicia sieht das wie ich, und nur das Leben hat einen Fehler gemacht, als es uns spät zusammenbrachte. Ich wollte diesen Fehler berichtigen, nicht leichten Herzens, aber jubelnden Herzens.
Mit Kara war das etwas völlig anderes. Sie traf keine Schuld, sie stand weder mir noch Elicia im Weg, sie schmälerte mein Glück nicht, indem sie lebte – so wie Baldur –, sondern sie hätte es geschmälert, indem ich sie mit meinem Urteil getötet hätte. Für mich ist das ein großer, sehr bedeutender Unterschied, aber es mag sein, dass du, der du diese Zeilen liest, ihn nicht verstehst.
Es bleibt immer noch die Frage, wen ich an meiner Stelle gerichtet hätte. Denn das Verbrechen unaufgeklärt zu lassen, das wäre unmöglich gewesen. Im Fall von Agapets Tod war es mir mit Mühe und Not gelungen, das Verfahren ohne Ergebnis für ruhend zu erklären. Nach Baldurs Tod wäre dasselbe nicht vorstellbar, da jeder annehmen würde, dass derselbe Täter zum zweiten Mal gemordet hätte, und wenn ich den Fall nicht lösen könnte, würde man einen anderen Mann herschicken, was mir nicht recht sein konnte.
Irgendein Mörder hat aus einer Frage zwei Fragen gemacht: Zu der oben genannten Frage, wen ich an meiner Stelle wegen des Mordes an Baldur gerichtet hätte, kommt hinzu: Wen werde ich wegen des Mordes an Baldur beschuldigen und richten? Ich weiß nicht, ob es überraschend klingt, dass die Antwort auf beide Fragen dieselbe ist.
Warum auch nicht? Baldur war tot, aufgeschlitzt, ich war am Ort der Tat gewesen, Elicia war frei, ein Mörder musste gefunden werden. Lassen wir meine stille Freude beiseite, weil es für mich nicht nötig geworden war, zum Verbrecher zu werden und andere dafür büßen zu lassen, waren die Fakten kaum anders, als wenn Baldur die Kehle von mir aufgeschnitten bekommen hätte. Was sich jedoch anders darstellte – allerdings nur für mich ersichtlich –, war meine beruflich bedingte Neugier, die mit Baldurs Tod wieder erwachte. Es ging mir nicht mehr darum, welcher Täter für mich vorteilhaft war, sondern wer tatsächlich die Tat – vermutlich beide Taten – begangen hatte. Und der am meisten Verdächtige war Aistulf.
Ich habe oben bereits das Für und Wider einer solchen Anklage erläutert, die ich nun, nachdem klar ist, dass ich Baldur nicht umgebracht habe, eigentlich voller Überzeugung erheben könnte, ist Aistulf doch der – neben mir – größte Nutznießer von seines Gegners Tod. Doch warum schreibe ich »eigentlich voller Überzeugung«? Weil ich Aistulf auch als Baldurs Mörder angeklagt hätte, wenn ich selbst Baldurs Mörder gewesen wäre. Die Entscheidung war gefallen, kurz bevor ich das Gemach in Richtung Scheune verlassen hatte. Was schließlich den Ausschlag für Aistulf gab, konnte ich mir zunächst nicht erklären. Gewiss, irgendjemand musste beschuldigt werden, und ich war derart unruhig wegen dem, was ich zu tun beabsichtigte, dass ich mir nicht auch noch darüber den Kopf zermartern wollte. Vielleicht dachte ich, es für Elicia zu tun, da nur Aistulf von allen in Betracht kommenden Menschen derjenige war, an dem ihr nichts lag. Doch das war nicht der Grund. Erst jetzt, da vierundzwanzig Stunden vergangen sind, glaube ich, meine Wahl zu verstehen.
Sie hat ihre Ursache in dem Prozess, den ich gegen mich selbst führe und der Anlass meines Schreibens ist.
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