Die Suendenburg
Umstand an sich nichts Ungewöhnliches. Dann aber … Sie erfand Begebenheiten, die nicht stattgefunden hatten, Begebenheiten, bei denen stets sie und ihr Vater im Mittelpunkt standen. Irgendwelche Geschichten. Ich weiß nicht, woher sie sie nahm. Sie waren völlig aus der Luft gegriffen, und wenn ich ihr widersprach, wurde sie zornig, sodass ich es irgendwann unterließ, sie darauf hinzuweisen. Ich sprach mit Agapet darüber – er nahm keinen Anteil daran, und Bilhildis meinte, ich solle den Dingen ihren Lauf lassen, das würde sich von selbst geben. Was sollte ich tun? Mir fehlte die Idee, die Möglichkeit – vielleicht auch der entscheidende Wille, der mir in den Jahren der kalten Zurückweisungen eingefroren war. Also tat ich, was Bilhildis sagte, und ließ den Dingen ihren Lauf.
Je weniger Zeit Agapet für Elicia hatte, desto mehr schien sie mit ihm zu verbringen. Was er tat, tat er im Grunde für sie. Wies er eine Bitte von ihr zurück, vergaß sie, dass sie ihn je gebeten hatte, oder tat so, als sei die Bitte erfüllt worden. Das wirklich Schlimme an alledem war, dass Elicia nicht log, wenn sie dergleichen behauptete, sondern aus ihrer Sicht die reine Wahrheit erzählte. Sie glaubte an ihre eigenen Dichtungen, und zwar mit einer unheimlichen Überzeugung. Unheimlich, ja, ein wahres Wort. Sie selektierte die Erfahrungen mit ihrem Vater in solche, die ihr gefielen, und jene, die es nicht gab. Ansonsten war sie eine ganz normale junge Frau, sie konnte scherzen, trauern, sich ärgern, sich hübsch machen, mit ihren Zofen lachen, mit Baldur streiten, sich ein Kind wünschen, kluge Sätze sagen – kurz, sie war nicht anders als andere, und ihr Verstand arbeitete tadellos.
Nur wenn es um ihren Vater ging, scheiterte sie an der Wirklichkeit, derer sie sich entledigte, indem sie eine neue erschuf.
Eines Abends im letzten Frühling … Es war furchtbar. Elicia bat ihren Vater um den Ring aus der königlichen Kassette. Agapet hatte zu viel getrunken, er lachte Elicia in derber Weise aus und sagte ihr dann, dass sie ihm erst einmal Enkel schenken solle, bevor sie irgendwelche Wünsche vorbringe. Er gab ihr die Schuld an ihrer Kinderlosigkeit, warf ihr vollständiges Versagen als Eheweib und Tochter vor und drohte ihr in seiner Trunkenheit an, sie unter einen Bullen zu legen oder – ich wage es kaum auszusprechen – sich seinen eigenen Enkel mit ihr zu machen. Er war schrecklich an jenem Abend. So hatte er noch nie mit Elicia gesprochen, und sie war völlig verstört. Doch damit nicht genug, packte Agapet Elicia an den Schultern, riss ihr das Kleid vom Leib und presste ihr einen Kuss auf den Mund. Ich versuchte mehrmals, ihn zurückzuhalten, doch er stieß mich immer wieder weg. Immerhin, meine Versuche, ihn zu stören, sowie seine Trunkenheit führten dazu, dass Elicia sich seinem Zugriff entwinden konnte. Sie rannte weg. Danach lag sie tagelang mit Fieber zu Bett. Für kurze Zeit hatte ich die Hoffnung, dass sie nun klarer sehe, was die wahre Natur ihres Vaters anging. Doch im Gegenteil, während Agapet den Sommer über im Krieg war, ersehnte sie seine Rückkehr wie eine verliebte …«
Sie hielt inne, sah mich an, und ich ergänzte: »Braut?«
»Meine Elicia. Mein Gott.«
Sie fuhr sich mit beiden Händen durch ihr volles, ungekämmtes Haar, strich es zurück, hielt es fest, ließ es wieder los … Sie wusste nicht, wohin mit ihren Händen. Die tanzenden Schmetterlinge, deren Zahl sich verdoppelt hatte, waren ein Hohn auf den Zustand der Gräfin und auf meinen eigenen, der sich kaum von ihrem unterschied.
Wir schwiegen lange.
Ich sagte: »Ihr wusstet von Anfang an, dass Elicia die Täterin war.«
Sie nickte: »Beinahe. In der Nacht, als mir Baldur den gewaltsamen Tod Agapets meldete, glaubte ich noch an die Ungarin als Täterin. Aber am nächsten Morgen bemerkte ich, dass der Schlüssel zur Schatzkammer aus dem kleinen Loch in der Wand verschwunden war. Nur Aistulf und Elicia wussten um das Versteck. Ich öffnete mit Agapets Schlüssel die Schatzkammer und bemerkte, dass der Dolch und der Ring fehlten.«
»Da wurde Euer Verdacht fassbarer. Denn warum sollte sich jemand die Mühe machen, in die Schatzkammer einzubrechen, um einen Dolch zu entwenden, wenn es in der Burg von Messern wimmelt, nicht wahr?«
»Ich dachte sofort an Elicia, vor allem, weil auch der Ring fehlte, den sie so gern von ihrem Vater geschenkt bekommen hätte.«
»Ihr wolltet diese besondere Mordwaffe an Euch bringen, damit man glauben
Weitere Kostenlose Bücher