Die Suendenburg
drei Zofen. Alles scheint wie immer, wie an jedem Abend. Doch dieses Mal ist etwas anders: Es gelingt Elicia nicht mehr, die Kränkung zu verwinden. Sie will es, sie will lieben, sie will vergöttern. Aber sie will diesen groben Vater auch hassen und strafen.
Was danach mit Elicia passiert – wie kann ich das wissen, beschreiben? Sitzt sie erstarrt vor dem Spiegel wie gestern, als ich sie dort antraf? Schläft sie bereits? Spürt sie, dass etwas mit ihr geschieht? Hört sie Stimmen? Der Vorgang, in welchem ein Mensch entrückt, und die Welt, in die er entrückt, bleiben ein Mysterium für uns, die wir uns noch nie auf den Weg zu diesem Ort begaben. Ich hatte schon Fälle von Mondsucht zu richten, die manche als Sendung des Teufels, andere als Gabe Gottes verstehen wollen. Und ich hatte eine Kräuterfrau, die sich mit Tränken in einen Zustand ekstatischer Verzücktheit versetzte. Aber was mit Elicia geschah, das ist für mich einzigartig. Es ist, als hätte sich etwas ihrer bemächtigt, das sie selbst gehegt und gepflegt hatte, ein natürlicher Teil von ihr, der gehört zu werden wünschte. Ich kann es nicht anders erklären.
Sie geht im Nachtgewand durch die leeren Burggänge – denn das Fest ist noch im Gange – in das Gemach der schlafenden Mutter, stiehlt den Schlüssel, geht zur Schatzkammer, öffnet die königliche Kassette, holt den Ring, steckt ihn sich an den Finger … Fasst sie erst da den Entschluss, ihren Vater zu töten? Der Dolch liegt neben dem Ring in der Kassette. Wie auch immer, sie nimmt ihn an sich und begibt sich in das Geheimgemach, an das sie sich aus früher Kindheit und nur weil sie im Zustand der Umnachtung ist, erinnert. Dort sieht sie auch den alten Helm ihres Vaters. Sie wartet eine Weile, hört das Wasser rauschen, als Raimund das Bad einlässt. Noch einmal vergeht eine Weile. Dann betritt sie, aus dem Vorraum kommend, das Bad. Es ist sehr dunkel dort. Ihr Vater ist bereits im Becken, er sieht nicht sofort, wer zu ihm ins Wasser steigt, und als er es erkennt, ist es zu spät. Die äußerst scharfe Spitze des Dolches bohrt sich in Agapets Hals. Das Blut spritzt Elicia entgegen, benetzt Gesicht und Gewand – so wie Bilhildis ’ Blut sie später benetzen wird –, der Dolch gleitet ihr aus der Hand und fällt in das Wasser. Vielleicht will sie das Bad verlassen, doch sie hört von jenseits der Tür Geräusche und Stimmen – es ist Bilhildis, die Raimund die Ungarin übergibt. Erneut geht Elicia ins Geheimgemach. Wieder hört sie, wie Raimund vom Kesselraum aus warmes Wasser ins Becken nachlaufen lässt, und diesen Augenblick nutzt sie, um die Geheimkammer zu verlassen, Agapets Gemach zu durchqueren und zu ihrer eigenen Kemenate zurückzukehren. Niemand hat sie erkannt, denn Kara kann vom Becken aus den Vorraum des Bades nicht sehen. Elicia zieht ihr blutiges Nachtgewand aus und wirft es aus dem Fenster, denn verbrennen kann sie es nicht, da es noch nass ist. Danach zieht sie ein frisches Gewand an, das genauso aussieht wie das, welches sie weggeworfen hat. Auch den Schlüssel wirft sie fort.
Sie legt sich zu Bett, doch schläft sie wirklich ein, oder erwacht sie vielmehr aus einer Art Schlaf, während sie sich bemüht, einzuschlafen? Das jedoch ist eine Frage für Ärzte und Denker.
Sie erwacht. Sie glaubt, Schreie gehört zu haben. Und tatsächlich hat Kara geschrien. Doch kein anderer hörte diese Schreie, noch nicht einmal die Gräfin, deren Gemächer viel näher am Bad liegen. Waren es wirklich Karas Schreie, die Elicia hörte? Oder waren es vielmehr Schreie, die aus Elicias Innerem kamen? Sie eilt ins Bad und findet ihren toten, blutleeren Vater.
Von diesem Moment an beginnt der Prozess, den ich erwähnte. Der eine Teil von ihr tut alles, um den Mord an ihrem Vater zu rächen. Sie befragt Kara, sie befragt ihre Mutter, sie hilft mir bei der Aufklärung, indem sie mich in das Geheimgemach führt, von dem sie geträumt hat. Damit klagt sie sich selbst an, ohne dass sie und ich es begreifen. Sie sieht Geister und Schergen, einer von ihnen trägt den alten Helm ihres Vaters, so als käme Agapet aus dem Jenseits zurück, um sich zu rächen. O nein. Es hat nie einen Meuchler gegeben, der sie in der Nacht des Dammbaus in ihrer Kemenate überfiel, und ebenso wenig lauerte ihr kürzlich eine weitere Gestalt in der Dunkelheit eines Gangs auf und veranlasste sie zur Flucht. Sie alle waren lediglich Gespenster ihres Gewissens.
Elicias anderer Teil verwirft alles, was sie an ihren
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