Die Suendenburg
bliebe in jedem Fall dasselbe: Elicia hatte ihren Vater getötet.
Ergab das einen Sinn? Beim Nachtgewand mochte er noch nachvollziehbar sein, aber was den Schlüssel betraf … Elicia hätte ihn problemlos in das Versteck ihrer Mutter zurücklegen können. Der Dolch: Sie, die ihn im Bad entdeckt hatte, warf ihn wenig später aus demselben Fenster wie Tage zuvor das Nachtgewand? Des königlichen Rings, an dem ihr so viel lag, des letzten Geschenks ihres Vaters, entledigte sie sich ebenfalls? Und des Helms? Wozu? Und was war mit ihren Aufzeichnungen? Wieso, bei allen Heiligen und Engeln, sollte sie sie wegwerfen?
Dagegen stand: Wieso sollte ein anderer sie für Elicia wegwerfen? Und wenn doch, warum dann nicht gleich vernichten? Papiere ließen sich verbrennen, Gewänder ebenso. Und wieso den Ring und den Dolch nicht zu Geld machen? Mich hatte beim Auffinden der Gegenstände unterhalb von Elicias Fenster eine Ahnung beschlichen, kaum mehr als eine Furcht, wie sie ein Wanderer im dunklen Wald hat. Beim Lesen von Elicias Aufzeichnungen hatte sich diese Furcht verdichtet, mich verzweifeln lassen, und nach dem Gespräch mit der Gräfin hatte sie sich als wahr bestätigt. Das Licht, das mir noch fehlte, um erkennen zu können, hatte Claire mir gegeben.
Elicia hatte sich dieser Sachen entledigt, indem sie sie aus dem Fenster geworfen hatte – doch nicht in Wachheit, sondern in einem Zustand ähnlich dem, in welchem sie sich in den vergangenen Stunden befunden hat (und von dem sie sich im Augenblick, da ich dies niederschreibe, langsam erholt). Sie hat die Waffe, mit der sie ihren Vater getötet hatte, gesucht und gefunden, und sie hat sie wieder verschwinden lassen. Im Vollbesitz ihrer Sinne hat sie den Mörder ihres Vaters verfolgt und alles für seine Auffindung und Bestrafung getan, und in Abwesenheit ihrer Sinne hat sie ihn gedeckt – in beiden Fällen sich selbst.
Ist das wunderlich, fantastisch, widersinnig? Es ist im Grunde nichts anderes als der Prozess, den auch ich in meinen Niederschriften monatelang gegen mich geführt habe, ein Prozess gegen den Verbrecher in mir. Nur dass Elicia ihn mit anderen Mitteln führte und unfreiwillig.
Unfreiwillig ja, doch wirklich mit anderen Mitteln? Sie schrieb, genauso wie ich. Sie schrieb, um anzuklagen. Wen? Den Mörder. Wer war der Mörder? Sie selbst.
Sie hat sich selbst angeklagt, ohne es zu wissen. Und nachts – oder wann immer sie in ihre Umnachtung fiel – hat sie sich verteidigt.
In vollem Tageslicht ist sie der Gewohnheit gefolgt – die einem tiefen Wunsch entsprach –, ihren Vater zu verehren. Dazu gehörte nach seinem Tod auch, ihn zu rächen. In der Finsternis ihrer Seele jedoch war Agapet ein anderer: der Mann, der sie stets geringgeschätzt hatte, der sie zurückstieß, ihr die Liebe versagte, sie sogar beleidigte. Trotz allem hielt sie ihm die Treue. Ist es übertrieben, zu sagen, es war die Treue einer hoffenden Braut? Nachdem Agapet seine Tochter in trunkenem Zustand ungebührlich berührt hatte, fiel sie in ein Fieber, aus dem sie mit einem noch stärkeren Verlangen, ihm zu gefallen, erwachte. So zumindest hatte es den Anschein. Am Ende des Sommers brachte er Kara mit, eine mit Elicia gleichaltrige Frau. Sie war der Funken, den es noch gebraucht hatte.
Ich sehe Elicia vor mir. Es ist der Tag der Rückkehr Agapets. Sechs Monate lang hat Elicia diesen Tag herbeigesehnt. Die schreckliche Stunde, in der Agapet sie ungebührlich angefasst und geküsst hatte, hat sie allem Anschein nach vergessen. Sie hat ihr bestes Kleid angezogen und sich hübsch frisiert. Sie ist aufgeregt wie vor einer Hochzeit. Und da kommt er, Agapet, und alles ist wie immer. Kaum dass er sie eines Blickes würdigt, nur wenige Worte sind ihr vergönnt, dann ist sie schon wieder vergessen, denn Agapet wendet sich seiner Trophäe zu: Kara. Elicia jedoch besitzt genug Erfahrung darin, sich ihren Vater schönzureden. Auf dem Fest, so sagt sie sich, wird alles anders. Es wird Abend, das Fest ist im Gange, und tatsächlich: Für wenige Augenblicke gehört er ihr, als sie miteinander tanzen. Er fragt: Bekommst du endlich ein Kind? Sie bekommt kein Kind, und er lässt sie mitten im Tanz stehen. Er will einen Enkel, wenn er schon keinen Sohn mehr hat. Sie selbst zählt nicht, wohl aber die Ungarin, die er für die Nacht ins Bad bestellt. Zutiefst gekränkt, aber äußerlich gelassen verlässt Elicia das Fest, geht in ihr Gemach, lässt sich zum Schlafengehen umkleiden und entlässt ihre
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