Die Suendenburg
Vater oder das Verbrechen an ihm erinnert, so als wolle sie ihn besiegen und verbannen. Es ist ein beständiger Kampf im Gang zwischen der Selbstanklage und der Selbstbegnadigung, der auch ihre Aufzeichnungen zum Opfer fallen, die sowohl Lüge als auch Wahrheit enthalten. Sie schreibt darin unter anderem von ihren Tagträumen und auch von den Gestalten, die ihr auflauern. Es ist möglich, dass der im Dunkel agierende Teil Elicias eine Gefahr in ihrer Tätigkeit des Schreibens sah, ermöglicht es doch Elicia selbst und jedem anderen einen Blick in ihre Seele. Denn das ist der Zweck jeden Schreibens: Licht ins Dunkel zu bringen.
Ich steckte die Beweisstücke von Elicias Schuld zurück in den Beutel. Er wog schwer in meiner rechten Hand. Meine linke Hand war anscheinend frei, und nur die Gräfin und ich wussten, dass dort in diesem Moment unsichtbar ein anderes Gewicht lag: das des Herzens.
»Diese Entscheidung kann Euch niemand abnehmen, Malvin«, sagte sie. »Ich habe mich damals, als ich die Wahrheit erkannte, für Elicia entschieden. Ich wollte sie schützen und war bereit, eine Unschuldige statt ihrer bestrafen zu lassen. Das hat mich viel gekostet, und das meiste davon ist für immer verloren. Ein gepeitschtes Gewissen weist nicht weniger Narben auf als ein gepeitschter Rücken. Gott hat mich bestraft. Er hat mir den Glauben an so manches genommen. Aber er hat mich nicht zerstört. Er hat mir ein zweites Leben gegeben, in dem ich mich bewähren kann.«
»Wenn ich Elicia verurteile«, sagte ich, »verliere ich sie und mein Kind. Aber wenn ich sie verschone …«
»… werdet Ihr eine geliebte Frau haben, über die Ihr mehr wisst als sie über sich selbst.«
»Wird sie sich wieder erholen?«
»Mit Eurer Liebe, daran habe ich keinen Zweifel.«
Ich zog den Beutel zu.
Plötzlich rief Claire: »Seht nur!« Sie ging zum Fenster, wohin ich ihr folgte. Ein grandioses Spektakel war im Gang. Das ganze Tal und der Himmel über der Burg waren voller weißer Schmetterlinge. Die ungewöhnlich milde Luft und die warme Sonne der letzten Wochen hatten sie hervorgebracht. Claire sagte, dass sie diese Erscheinung in all den Jahren, die sie auf der Burg lebte, zum ersten Mal sah, und schrieb es dem Hochwasser des letzten Jahres zu, das das Land fruchtbarer denn je machte.
Ich lege meinen Schriften an dieser Stelle zwei Dokumente bei, die besser beschreiben, was meinem Gespräch mit Gräfin Claire folgte, als wenn ich darüber noch viele nutzlose Wörter schriebe. Zu dem ersten Dokument – genau genommen ist es ein Brief, der vor einer Stunde eintraf – muss ich erklären, dass ich, bevor ich kürzlich Konstanz verließ, einen Boten mit dringender Post nach Worms geschickt hatte.
Das zweite Dokument spricht für sich. Ich habe nicht vor, dem noch irgendetwas hinzuzufügen.
Gezeichnet zu Worms, am siebenundzwanzigsten Tag des April im Jahre des Herrn neunhundertzehnunddrei.
Konrad, König des Ostfränkischen Reiches, Herzog von Franken, an Malvin von Birnau, Vikar von Konstanz.
Wir, Konrad, König von Gottes Gnaden, entbieten Euch Unseren dankbaren Gruß. Die Briefe des Herzogs von Schwaben an Graf Agapet von Breisach, die Ihr Uns übersendet habt, haben Uns die Absichten Burchards enthüllt, sich bald vom Reiche loszusagen und Unseren Befehlen zuwiderzuhandeln. Als Ränkeschmied und Verräter gegen Unsere Gott gegebene Macht, haben Wir Burchard für abgesetzt erklärt. Unsere Truppen marschieren auf Tübingen, um Unserem Wort Gewalt zu verleihen und den Verräter gefangen zu nehmen.
Da der Titel des Herzogs von Schwaben somit vakant ist, ist es Uns gestattet, Euch, Malvin von Birnau, in Anerkennung Eurer Verdienste mit dem Titel und dem Amt des Pfalzgrafen von Breisach zu belohnen. Die Ernennung geht Euch mit Wirkung zum Ersten des Mai mit gesondertem Boten in Kürze zu. Zugleich ernennen Wir Aistulf, Pfalzgraf von Breisach, zum neuen Herzog von Schwaben, auf dass er gut über sein Land herrsche und seinem König ergeben diene.
Gezeichnet am letzten Tag des April im Jahre des Herrn neunhundertzehnunddrei.
Ich, Malvin von Birnau, Vikar von Konstanz, erkläre wegen der Morde an Agapet, Graf von Breisach, und seinem Schwiegersohn Baldur, dass die Dienerin Bilhildis diese Verbrechen begangen hat. Unstillbarer Hass gegen das Geschlecht der Agapiden trieb sie zu diesen schlimmsten Schandtaten gegen das Gesetz Gottes und des Landes. Dafür zeugt der Auszug aus einer Niederschrift, die sie für sich selbst anfertigte und den
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