Die Suendenburg
über sie, obwohl sie leibeigen sind wie ich. Die drei sehen immer aus, als wüssten sie im Vorhinein, dass etwas Schlimmes passiert, aber wenn es passiert, jammern sie herum. Was meine Söhne bloß an ihnen gefunden haben … Ach, was soll ’ s?
Ich sollte den Mut haben, zu sterben. Ich sollte. Doch das tödliche letzte Spiel fängt gerade erst an. Und das Schreiben. Ich werde mit Kohle aufs Papier drücken, was mir an Wunden zugefügt wurde, was an Härten und Gemeinheiten in mir ist, damit irgendjemand es einmal erfährt.
Claire
Für wen schreibst du, Claire? Für Gott? Er weiß alles. Für mich? Und was erhoffst du dir davon? Gar nichts. Das Glück ist meine Tinte. Ich schreibe, um es um seiner selbst willen zu zelebrieren, um es in die Feder und von dort auf Pergament fließen zu lassen, wo ich es dann lächelnd betrachten kann, ein Spiegelbild aus Lettern. Ich feiere mich selbst. Das Leben hat eine andere Stimmung bekommen, es ist jetzt ein mystischer Ort voller Wunder und Geheimnisse, die noch zu ergründen sind. Ich dringe vor in dieses neue, fremde Land, das Liebe heißt, und weiß nicht, was mich dort erwartet, welche Abenteuer mir bevorstehen. Wie könnte es ein schlechtes Land sein, in dem sich das Glück von innen nach außen kehrt, wo es sich plötzlich in einem schaukelnden Baumwipfel findet, in einer vorüberziehenden Wolke, in einem Atemzug, im Knirschen des Waldbodens, in dem Geschmack einer Weintraube, dem Nähen einer Tunika für meinen neuen Gemahl – allem kommt in diesem Land der Liebe eine zweite Bedeutung zu, die dem Glück eine größere Tiefe gibt.
Vielleicht schreibe ich törichten Unsinn. Das wird man – wie bei allem, was jeder sagt oder schreibt – erst in der Zukunft wissen. Derzeit ist es einfach nur wahr. Denke daran, Claire, wenn du diese Zeilen eines Tages noch einmal liest.
Am Tag freue ich mich auf die Nacht und am Morgen auf den kommenden Tag, und das nun schon seit einer guten Woche, seit der Hochzeit. Ich hatte es vorher gewusst und bin inzwischen darin bestätigt worden, dass Aistulf nicht nur ein völlig anderer Mensch, sondern auch ein völlig anderer Graf als Agapet sein wird. In unserer Hochzeitsnacht, die für uns eine weitere Liebesnacht und die erste Liebesnacht ohne Agapets Schatten war, flüsterte Aistulf: »Du musst es mir sagen, wenn ich als Graf Dummes tue, wenn ich vielleicht zu weit gehe, wenn ich das Unmögliche will, wenn ich …«
»Unmöglich ist es nur, solange es nicht gedacht ist, Liebster. In dem Moment, wo du es denkst, ist ein Schritt gemacht, und das Unmögliche ist ein Stück weniger weit entfernt.«
Er zog mich noch fester in seine Arme, meine Lippen schlossen sich um sein glattes Kinn, dann um seinen Mund, und seine schwarzen Augen glitzerten in der Dunkelheit.
»Manchmal glaube ich, Claire, wir sind im selben Augenblick geboren worden, weil wir so oft dasselbe denken.«
»Ich bin zweiundvierzig Jahre alt, du fünfunddreißig.«
»Dann muss es eine andere Erklärung geben. Manche Mystiker sagen, dass die Seelen, bevor sie bei der Zeugung beseelt werden, in einem himmlischen Raum umherschweben, und wenn sie sich versehentlich berühren …«
»… holen sie sich eine Beule.«
Wir stießen unsere Köpfe aneinander und lachten. Unsere Beine waren miteinander verflochten, unsere Arme, Gefühle, Hoffnungen, unser Denken und unser Glück, kurz, unser Schicksal. Wenn uns das vorher nicht schon bekannt gewesen war, dann spätestens seit dieser Nacht, in der wir Mann und Frau im Angesicht des Herrn waren.
»Wir zwei angeschlagene Seelen gehen unseren Weg gemeinsam«, sagte ich, »und es soll uns nicht scheren, ob man ihn unmöglich nennt oder versponnen oder töricht. Du hast Ideen, neue Ideen, wir haben oft darüber gesprochen. Der Feuereifer in deinem Herzen war das Erste an dir, in das ich mich verliebte, vor allem, weil es ein Eifer für die Menschen ist und nicht, wie es bei Agapet der Fall war, ein Eifer für den Schlachtenruhm. Ich habe gesehen, wie du dich als Verweser um die Dörfer gekümmert hast, wie dir das Schicksal der Waisen zu Herzen gegangen ist, das der Verkrüppelten, der Armen, und ich habe bemerkt, dass du nicht bloß voller Mitleid warst, sondern auch voller Enttäuschung, weil du allzu wenig tun konntest.«
Er schwieg eine Weile. Seine Antwort kam leise: »Ich habe nie mit dir über meine Enttäuschung gesprochen.«
»Haben wir nicht soeben festgestellt, wie nahe wir uns sind? Ich habe gewusst, was ich wissen
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