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Die Suendenburg

Die Suendenburg

Titel: Die Suendenburg Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Eric Walz
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musste, und ich habe mit dir gelitten. Armer Aistulf. Gewiss hat es Tage gegeben, in denen du dir mehr als alles andere gewünscht hast, Dinge verändern zu können.«
    Er runzelte die Stirn. Zögerlich sagte er: »J-ja.« Und dann, als würde er sich wegen seiner ehrlichen Antwort sorgen, küsste er mich lange und zärtlich, und am Ende des Kusses war Aistulf über mir, seine Haare fielen mir ins Gesicht, ich streichelte die seinen, erneut funkelten seine Augen, sie waren feucht. »Ist es schlimm«, fragte er, »dass ich mir genauso stark gewünscht habe, Graf zu sein, wie dich zur Frau zu haben?«
    Ich lächelte mild. »Ob das schlimm ist? Ich würde dich nicht anders haben wollen. Sei als Graf so, wie du als Mann bist, und als Mann so, wie du als Graf bist. Gemeinsam machen wir deine Träume, die auch meine geworden sind, wahr. Ich weiß, was in uns steckt, Aistulf. Lass uns mutig sein. Agapet war feige, außer wenn es darum ging, für Gott und Krieg sein Leben auf die Waage zu werfen. Dass er den Tod im Bad gefunden hat, sähe er als schlimmer an als den Tod an sich.«
    Wir lächelten beide, während wir uns kleine Küsse gaben.
    »Hätte Agapet fünf Leiber gehabt«, sagte Aistulf, »er hätte sie alle bereitwillig hingegeben, unter der Bedingung, dass sie von Schwertern durchbohrt werden.«
    Wir lachten.
    »Er wird sich dort, wo er jetzt ist, furchtbar langweilen ohne sein Schwert«, lästerte ich.
    »Deswegen habe ich es ihm ins Grab legen lassen.«
    »Das hast du nicht!«
    »Aber sicher. Du hast gesagt, ich soll mich um die Bestattung kümmern, und das habe ich getan. So ist er am Jüngsten Gericht gewappnet, wenn es hart auf hart kommt.«
    Wir prusteten vor Lachen. Während des Hochzeitsfestes hatten wir Wein getrunken, aber der Wein allein war es nicht, der uns übermütig, böse und gottverlassen machte, sondern es war auch und vor allem das Glück, die Zukunft auf unserer Seite zu wissen. Irgendwann, als ich nach Luft schnappte, rief ich: »Der arme Agapet.«
    Als wir wieder ruhig geworden waren, wiederholte Aistulf sehr leise: »Ja, der arme Agapet.«
    Gleich darauf liebte mich Aistulf zum zweiten Mal in dieser Nacht, und ich feuerte ihn an, so als wollten wir gemeinsam die Geister vertreiben, die in diesen Mauern leben, die Ahnen der Agapiden, die hier geliebt, gezeugt und geboren hatten und die wir vom Thron stießen mit unseren Plänen und unseren Küssen.
    Fast am Ende der Nacht, als es still geworden war, als mein Rücken an seine Brust geschmiegt war und seine Hand träge meinen Bauch streichelte, fragte er: »Hast du keine Angst?«
    »Wovor?«
    »Ich weiß nicht – davor, dass es nicht so gelingt, wie wir es uns wünschen.«
    »Nein.«
    »Wie machst du das bloß, Claire?«
    »Sehr einfach. Meine Angst ist aufgebraucht, es ist nichts mehr von ihr übrig. Den allerletzten Rest habe ich während der Trauerwache über Agapets Grab verloren. Sie ist in der Nacht aufgegangen. Wenn du Angst hast, Aistulf, dann komm zu mir, denn keiner versteht mehr und keiner hat weniger davon. Ich weiß nicht, wie viele Tage mir noch bleiben, aber sie werden weder der Angst noch Gott gehören, sondern mir.«
    Am nächsten Tag, dem Tag des Herrn, gingen wir in das Dorf Argotlingen am Fuß des Sündenberges, auf dem unsere Burg steht. Es ist Tradition, dass der Graf bei besonderen Anlässen, zu denen auch seine Inauguration gehört, Almosen verteilt. Aistulf hatte jedoch mehr vor. Nach der Messe verteilte er die mitgebrachten Almosen unter die Leute, doch damit ließ er es nicht bewenden. Er bat die Bauern, ihm ihre Sorgen zu schildern, sofern es sich um solche handelte, bei denen er Abhilfe schaffen konnte. Ich habe dergleichen noch nie gesehen: Es standen etwa dreißig Männer und Frauen in einem großen Halbkreis um uns herum, aber keiner machte den Mund auf. Ich sah Frauen, die zehn Jahre älter als ich zu sein schienen, aber einen Säugling auf dem Arm trugen; Greise, klapprig wie Lazarus; tief in den Höhlen sitzende Kinderaugen; Männerarme so dünn und zerfurcht wie Rebstöcke; zerschlissene Kittel, löchrige Bundschuhe. Die Aufwendungen für den »süßen Krieg« – wie Agapet ihn gerne genannt hatte – wurden zum größten Teil von den Bauern getragen, die überdies ihre Söhne für die Feldzüge ausleihen mussten. Süß war der Krieg für sie, die ihn am ärgsten erlitten, gewiss nicht. Es hätten sich also mindestens ein Dutzend Stimmen zu Wort melden müssen, doch die Zungen der Bauern waren wie gelähmt

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