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Die Suendenburg

Die Suendenburg

Titel: Die Suendenburg Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Eric Walz
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von tausend Jahren des Schweigens.
    Aistulf wiederholte seine Frage und ermutigte die Leute, zu reden, doch außer demütig gesenkten Köpfen erhielt er keine Antwort. An die Stelle der Verehrung, die sie dem leutseligen Verweser entgegengebracht hatten, war nun dem hohen Grafen gegenüber die reine Ehrfurcht getreten. Schließlich war der Dorfgeistliche der Einzige, der eine Bitte vorbrachte, und die betraf den Ankauf einer kleinen holzgeschnitzten Madonnenstatue für den Altar der windschiefen Kapelle von Argotlingen. Ausgerechnet die Mutter Kirche, die mit ihrem Zehnt wahrlich gut ausgestattet ist, ihn jedoch nicht an die kleinen Dorfkirchen weitergibt, bat um Unterstützung. Aistulf sagte sie zu, doch ich konnte spüren, wie ernüchtert er von dieser Dorfversammlung war, die er sich ganz anders vorgestellt hatte.
    Wir waren bereits im Aufbruch, als Aistulf sich plötzlich umwandte und an die Bauern gerichtet sagte: »Keiner von euch kann sich heute satt essen. Noch nicht einmal am Tag des Herrn habt ihr genug, um eure Bäuche zu füllen, doch ihr schweigt. Wieso?« Und als niemand antwortete, wiederholte er laut und fordernd: »Wieso? Ich will es wissen.«
    Der Dorfgeistliche wollte antworten, doch Aistulf unterbrach ihn. »Nein, ich möchte, dass einer von ihnen mir antwortet.«
    Nach einer Weile fasste sich eine Bäuerin ein Herz. »Gnädigster Herr«, sagte sie, »die Ernten waren schlecht.«
    »Ja«, sagte Aistulf, »das stimmt. Und gegen eine schlechte Ernte kann auch ich wenig tun. Aber Fische sind genug im Fluss.«
    Die Bauern sahen sich untereinander an.
    »Gnädigster Herr«, sagte einer, »die Fische gehören Euch, und Ihr habt die Genehmigung zum Fischen und dem Verkauf der Fänge an die Markträte gegeben.«
    »Falsch«, sagte Aistulf. »Graf Agapet hat das getan. Und vor ihm sein Vater. Und vor diesem dessen Vater. Damit hat es jetzt ein Ende. Ich erlaube einem jeden in der Grafschaft, dessen Dorfgemarkung an den Rhein grenzt, das Fischen im Fluss zum hauseigenen Verbrauch. Forellen, Aale, Karpfen, Saiblinge, Hechte, Schleien und Äschen dürfen ab heute mit meiner Billigung gefangen und in der eigenen Familie verzehrt oder als Salzfische eingelegt werden. Der Handel mit diesen Fischen hingegen verbleibt bei den Markträten.«
    Das Echo auf die Ankündigung war insofern überwältigend, als alle wie vom Donner gerührt waren. Ich glaube, sie hatten die Tragweite dieser herrschaftlichen Erlaubnis zu diesem Zeitpunkt noch nicht erfasst. Aber als Aistulf und ich auf unsere Pferde aufsaßen und mit unserem kleinen Gefolge langsam aus Argotlingen ritten, hörten wir, wie hinter uns das Gemurmel begann, und schließlich vernahmen wir, als wir schon ein ganzes Stück entfernt waren, wie ein Einzelner in helles Jauchzen ausbrach.
    Ich reichte Aistulf meine Hand, und wir lächelten einander an.
    Nachdem wir das Gefolge zur Burg vorausgeschickt hatten, gingen wir, die Pferde hinter uns herführend, am Fluss entlang. Die milde Septembersonne funkelte auf den Rheinwellen, purpurfarbene Fliegen standen flügelschwingend in der Luft, und über den Wiesen lag friedliches Summen. Dieser mächtige Strom, der fast geräuschlos an uns vorbeifloss, war nicht nur die Kraftquelle des Landes, das uns gehörte, sondern wurde auch zur Kraftquelle von uns beiden. Noch nie habe ich mich so unbesiegbar gefühlt – und ich scheue mich nicht, zu sagen, so unsterblich – wie in jener Stunde.
    Allein für diesen Tag hatte sich mein Leben gelohnt. Die Wunden schlossen sich.
    Wir sprachen wenig, rasteten hier und dort für kurze Zeit, labten uns am Wasser und betrachteten unsere Gesichter und Gestalten im Spiegel des Rheins: ein hochgewachsener, nicht mehr junger Mann mit einem Bartflaum auf den Schläfen und über der Oberlippe, mit schulterlangem braunem Haar, schwarzen Augen, auffällig schönen Lippen und einer breiten, sehr männlichen Stirn; eine zierliche, nicht mehr junge Frau mit hohen Wangenknochen, einer kleinen Nase, schwarzen ruhigen Augen, auffällig schön gestecktem blondem Haar und einem duftigen Schleier, der all das umhüllte. In diesem flüssigen Spiegel verschwammen unsere beiden Leiber bisweilen zu einem, was uns sehr gefiel.
    Erst als wir ein gutes Stück gelaufen waren und in die Nähe der Sumpfwiesen kamen, wurde Aistulf gesprächig.
    »Wir sollten dieses Gebiet trockenlegen«, sagte er. »Stell dir vor, es würde zu Ackerland, dann könnten wir den Bauern dreier Dörfer zusätzliche Anbauflächen zur

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