Die Suendenburg
vorbei. Ich werfe – und es gelingt.
Meine Brüder weigern sich, mir dabei zu helfen, den Schimmel endgültig festzuhalten und zu bändigen. So wäre es üblich, doch sie stehen nur daneben und sehen zu, wie das Ross sich aufbäumt, sich wehrt, wie es zieht und auszubrechen versucht. Allein schaffe ich es nicht, und so reißt es sich schließlich los und entkommt.
Ich mache meinen Brüdern Vorwürfe, ich bin sehr erregt. Der Ältere gibt mir eine schallende Ohrfeige und schubst mich zu Boden.
Da kommt mein Vater, der aus der Ferne alles beobachtet hat. Zunächst schilt sein Blick meine Brüder, weil sie gescheitert sind, und sie senken beschämt ihre Köpfe. Dann tadelt er den Ältesten: Ein Mädchen schlägt man nicht. Schließlich wendet er sich mir zu. Komm mit, sagt er, kommt alle mit.
Wir reiten zusammen zum See. Dort, am Ufer, ergreift mein Vater meine Handgelenke und zerrt mich ins Wasser. Ich habe Angst, ich kann nicht schwimmen. Er zerrt mich so weit in den See hinein, dass ich nicht mehr stehen kann, und dann lässt er mich los.
Ich schreie. Ich zappele. Ich sehe das Wasser vor meinen Augen spritzen. Ich sehe es über mir zusammenschlagen, ich sehe nur noch Wasser. Ich versuche zu atmen, ich atme den See, er dringt in mich ein. Ich spüre, wie ich sinke, meine Füße berühren den Boden, und ich versuche, mich an die Wasseroberfläche zu stoßen. Es gelingt nicht. Ich spüre gar nichts mehr. Es wird schlagartig dunkel und kalt.
Das Nächste ist, dass ich auf dem warmen Ufersand liege, das Erbrochene vor mir, von Brüdern umringt, und mein Vater beugt sich zu mir hinunter und sagt: Das wird dir eine Lehre sein.
Claire
Ich hatte eine schwierige Entscheidung zu treffen, die mir erstaunlich leichtgefallen ist. Heute Morgen, zwei Tage nachdem Malvin von Birnau mir die Möglichkeit des Reinheitseides aufgezeigt hat, hatte ich beschlossen, den Eid abzulegen, und ich ließ umgehend alle Männer und Frauen der Burg sich im Haupthof versammeln. Der Zeitpunkt erschien mir geeignet. Nach tagelangem Regen war es endlich wieder trocken, das Morgenlicht gab mir Zutrauen, die Sonne kam hervor, brachte die Tropfen an den Mauerrändern zum Blitzen, und ein leichter Wind blies den schweren Dunstschleier über dem Fluss fort.
Aistulf äußerte Bedenken. »Auf die Bibel zu lügen, Claire, ist in mehrfacher Hinsicht gefährlich.«
»Moses hat auch gelogen, als er seinem Volk sagte: Wir sind bald da.«
»Er tat nur, was Gott ihm aufgab.«
»Da siehst du es: Gott nimmt es auch nicht immer so genau mit der Wahrheit.«
»Bitte, Claire, das ist eine ernste Sache.«
»Wenn ich nicht lüge, wird man dich als Graf absetzen. Der Mann, der die Ehe des Vorgängers gebrochen hat, kann nicht sein Nachfolger im Amt werden, das würden weder Herzog noch Geistlichkeit tolerieren. All deine guten Pläne wären am Ende, bevor sie auch nur ansatzweise umgesetzt wären.«
»Mit den Menschen zu hadern ist eine Sache, mit Gott zu hadern eine andere«, sagte Aistulf. »Wo ist nur deine Frömmigkeit geblieben?«
»Ich kann sie mir nicht mehr leisten.«
Ich war Gott lange ergeben gewesen, und das Ergebnis war desaströs. Zum ersten Mal in meinem Leben hatte ich Leichtigkeit gefunden, ein leichtes Herz schlug in meiner Brust, ich hatte eine Amour mit meinem Leben, und das alles nur, weil ich andere Götter anrief: die Liebe, das Leben … Sterbliche Götter, gewiss, doch zurzeit äußerst lebendig. Aistulf war im Grunde nicht fromm. Aber sein Gewissen plagte ihn, weil ich einen Meineid für ihn auf mich nahm, und deshalb meinte er, mir Gegenargumente liefern zu müssen. So ein lieber, dummer Junge! Zum einen ist es für mich kein Opfer, dem Mann, der dasselbe für mich tun würde, meine Ehrlichkeit hinzugeben. Ich habe in der Vergangenheit Opfer gebracht: Agapet gab ich meine Unbeflecktheit hin, dann meine Jugend, meine Freiheit und meine Klugheit. Zum anderen lüge ich nicht nur für Aistulf, sondern auch für jene wunderbare Blume, die sich im Dunkel meines Körpers entfaltet. Ich lüge für das Kind, das ein Anrecht darauf hat, nicht mit dem Kainsmal der Sünde auf die Welt zu kommen und allezeit damit leben zu müssen. Wenn ich die Wahl habe zwischen der jenseitigen Hölle für mich oder der diesseitigen Hölle für mein Kind, wähle ich das Erste.
»Nicht ich habe Himmel und Erde, Ehe und Eid erschaffen, also bin ich auch zu nichts verpflichtet«, sagte ich. »Gott kann unmöglich das Unglück wollen, das daraus entsteht, wenn ich
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