Die Suendenburg
darin, ohne jede Überlegenheit, ohne Häme – ich habe hier eine Weile überlegen müssen, um das, was das Gesicht des Mannes ausmachte, treffend wiederzugeben: Was ich sah, war die Abwesenheit des Bösen. Weder Lehel, mein Mann, noch ich selbst noch irgendeiner meines oder des hiesigen Volkes, den ich kenne, kann dies von sich sagen – ein so reines Gesicht zu haben. Irgendwo sind bei uns allen Schatten zu erkennen – beispielsweise von Lügen, von Kämpfen, von der Gier nach Vorteilen, von der Jagd nach Besitz, von Gedanken der Vergeltung. Nicht bei ihm. Seine großen grünen Augen, in denen Witz lag, die etwas zu kleine Nase, die weiche Rundung des Kinns, kurz, das Fehlen jeglicher Strenge machte ihn zu einem Richter, wie ihn sich jede Beschuldigte wünscht, und zu einem Mann, der jenen Frauen gefällt, die vom Ungebändigten, Kühnen, Stolzen und daher Selbstsüchtigen ein für alle Mal genug haben oder selbst so viel davon besitzen, dass es für zwei reicht.
»Du verstehst mich nicht? Das habe ich befürchtet. Es macht die Angelegenheit nicht leichter, für mich nicht und für dich leider auch nicht.«
Er betrachtete die Wand mit dem Geschriebenen darauf.
»Das ist dein Werk? Du schreibst? Sind das Beschwörungsformeln? Doch wieso schreibst du an die Wände? Soll ich dir Lumpenpapier bringen lassen?«
Ich wollte sein Papier nicht, aber das durfte ich ihm nicht sagen, denn dann hätte er gewusst, dass ich seine Sprache verstehe. Trotzdem hätte ich ihm gerne erklärt, warum ich den Stein seinem Papier vorzog. Ich hätte ihm gesagt, dass vielleicht nur das von mir bleiben wird: Furchen an der Wand. Und dass diese Worte für mich wie Tränen wären, wie Regen, der aus dem Wind herausfällt. Und dass ich hier drin, wo ich nicht frei sein könne, den Sog der Erde fühle, in die man mich vergraben wird. Und dass ich gegen die Angst anschriebe, so wie man gegen den Strom schwimmt, um nicht mitgerissen zu werden, und so wie man dann, wenn man doch mitgerissen wird, unter Wasser zu atmen versucht bis zuletzt.
Ich habe geschwiegen.
Er ging eine Weile ziellos im Raum umher. Anfangs folgte ihm mein Blick, dann wandte ich mich ab, und genau diesen Moment nutzte er, um mich hereinzulegen. Er sagte: »Heute Abend wirst du hingerichtet. Vorher hacken wir dir die Füße ab.«
Ich wirbelte herum und starrte ihn voller Entsetzen an.
Er sagte: »Tut mir leid, aber ich musste diesen Kniff anwenden. Verzeihst du mir?«
Er schickte seinen Schreiber aus der Kammer. Ich bekam ein wenig Angst.
Er sagte: »Ich möchte dir erzählen, was vor ungefähr drei Jahren geschah. Die Ungarn überrannten zunächst die Mark Kärnten, dann Baiern. Sie zogen die Donau entlang nach Schwaben, überquerten sogar den Rhein und fielen in Lothringen ein. Auf diesem Weg ließen sie Konstanz Gott sei Dank außer Acht. Aber das Umland war verwüstet, und von überall her strömten elende Menschen in unsere kleine Stadt. Ihre Kornernten waren verbrannt, ihr Vieh geschlachtet oder geraubt, ihre Priester niedergemetzelt, ihre Burgen geschleift, manche ihrer Frauen geschändet, manche ihrer Männer verschollen, manche ihrer Kinder auf der Flucht verhungert. Meine Frau und ich nahmen zwei Greise und vier Waisenkinder in unser Haus auf, aber trotz all unserer Mühe starben die Alten sehr bald, und eines von den Kindern hatte seine Sprache verloren und war zum Narren geworden. Im Jahr davor, so hörten wir, war es in einem anderen Teil des Reiches, in Thüringen, dasselbe gewesen, und im Jahr danach wiederholte es sich in Baiern und Franken. Jeden Sommer kamen die Ungarn, verbreiteten Schrecken und hinterließen Hunger. Manchmal blieben sie sogar über Winter und setzten ihr übles Werk im Frühling fort. Die Leute, die vor ihnen geflohen waren, berichteten uns, dass die Ungarn nicht nur mit ihren Männern in unser Land kamen, nein, sie brachten Frauen und sogar Kinder mit, sie ließen sich mit all ihrem Hausstand nieder und lebten in Zelten oder erbeuteten Hütten. Es soll vorgekommen sein, dass einige Frauen, Männer und Kinder der Ungarn auf diesen jahrelangen Raubzügen die Sprache der Einheimischen lernten.«
Ich hatte, als er zu erzählen begonnen hatte, meinen Blick zu Boden gerichtet und beließ ihn dort, als er sagte: »Meine Frau, die guter Hoffnung war, überlebte jenes entbehrungsreiche Jahr nicht. Sie starb entkräftet an den Folgen des Hungers und des Leids, an den Folgen der ungarischen Invasion. Unser jüngstes Kind in ihrem Leib starb
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