Die Suendenburg
Hochwasser bewirkte viererlei für mich: Meine Reise zu Orendel verschob sich; unter den vielen fremden Gesichtern in der Burg fiel das von Norbert nicht auf, ich konnte ihn also, ohne Argwohn zu erregen, an jeden Ort innerhalb der Burg bringen; Baldur war von Aistulf mit Maßnahmen zur Eindämmung der Flut beauftragt worden, die ihn stark beanspruchten; und es sollte eine besondere Messe mit Bittgebeten gelesen werden, zu deren Teilnahme alle Bewohner und Gäste der Burg angehalten wurden. Das war meine Gelegenheit.
Am Abend der Messe ging ich zu Elicia. Sie war allein. Baldur beaufsichtigte die Errichtung eines Deichs im Tal, der Schlimmeres verhüten und dessen Bau die ganze Nacht andauern sollte.
Ich führte ein kleines Stück Papier mit mir, auf dem stand: Ich habe Eure Teilnahme an der heutigen Messe bei Aistulf und der Gräfin abgesagt.
»Wieso denn das? Das war nicht recht von dir. Außerdem bin ich den beiden keine Auskunft schuldig. Was soll das heißen, Bilhildis? Was hat dieser Zettel zu bedeuten?«
Sie stöberte in meinem vielsagenden Gesicht nach der Lösung des Rätsels und war gescheit genug, diese dort zu finden.
»Du meinst – hat es etwas mit dem Gespräch zu tun, das wir unlängst führten?«
Es hat.
Mit weit geöffneten, hoffnungsvollen Augen fragte sie: »Und? Hast du es mitgebracht?«
Ich löschte alle Öllampen bis auf zwei, sodass genug Licht übrig blieb, damit Elicia sich für mein Mittel begeistern konnte, und genug Dunkelheit eintrat, damit sie zu einer Gestalt der Nacht wurde. Nachdem das getan war, gab ich ihr zu verstehen, zu warten. Ich öffnete die Tür und winkte Norbert heran. Er trug eine Tunika, die am unteren Ende nur die halben Oberschenkel bedeckte und am oberen Ende einen breiten, vertikalen Schlitz aufwies, der seine glatte, von Öl glänzende Brust erahnen ließ. Ich muss sagen, dass Norbert sein zweites, neuestes Handwerk – jenes der Verführung – verstand und dass, falls er eine Moral besaß, diese nirgendwo zu erkennen war. Ich beglückwünschte mich noch einmal zu meiner getroffenen Wahl.
Elicia fragte mich flüsternd: »Und dieser Bursche führt das Mittel mit sich?«
Ich nickte. Gewissermaßen führte er es mit sich.
»Ist es ein Trunk?«
Ich wiegte unentschieden den Kopf. Kein Trunk. Dennoch wird es eingeflößt.
»Bilhildis, bitte, ich platze vor Neugier.« Sie betrachtete sich ihn näher. »Er sieht nicht aus wie ein Medicus oder Kräuterkundiger.«
Nein, gab ich zu verstehen, er sieht aus wie jemand, der dafür sorgt, dass Ihr ein Kind bekommen werdet.
Wieder forschte sie eine Weile in meinem Gesicht, und dass sie erneut begriff, bewies mir, dass sie früher schon selbst an eine solche Möglichkeit gedacht hatte.
»Bilhildis«, rief sie mit kunstvoll erschreckter und bemüht unterdrückter Stimme. »Bilhildis, das … Ist das dein Ernst? Wir reden hier von … vom … Unaussprechlichen.«
Vom Unaussprechlichen! Für mich ist alles unaussprechlich, ob Ehegelübde oder Ehebruch. Die Unaussprechlichkeit hat auch ihr Gutes, weil alles, worüber nicht gesprochen wird, im Laufe der Zeit ins Vage abgleitet, dort zersetzt wird und schließlich seine Form und Wahrheit einbüßt. Das Feste wird flüssig, das Flüssige wird nebulös, das Nebulöse verliert sich. Nur drei Menschen würden je vom Unaussprechlichen wissen: Elicia selbst, Norbert und ich. Die Dreieinigkeit der Sprachlosen. Bilhildis stumm, Norbert fort. Und was Elicia anging, so besaß sie schon von Kindheit an die Gabe des Selbstbetrugs. Vielleicht würde sie während der Mutterwerdung noch Skrupel empfinden, aber spätestens wenn sie das Kind im Arm hielte, wäre seine Zeugung vergessen.
Ich rechnete damit, dass der anerzogene Widerstand gegen Ehebruch im Nu in sich zusammenfallen würde wie verkohltes Holz und dass die glimmenden Reste der Moral von Norbert zertreten würden. Seine Augen hätten so manche gottesfürchtige Nonne gefügig gemacht, wieso also nicht eine unbefriedigte, sich nach Liebe sehnende und nicht gerade zimperliche junge Frau? Ich stieß Norbert in Elicias Gemach und schloss die Tür hinter dem Paar. Dann brach ich auf zur heiligen Messe.
Ich hatte richtig gerechnet. Die Höfe und Gänge waren menschenleer, alle waren in der Messe oder beim Deichbau, keiner würde die Zeugung des Balgs stören. Immer lauter drangen die biblischen Gesänge an mein Ohr, und als ich in der Kapelle eintraf, erhob sich das Kyrie, ein mächtiger Schwall von Tönen gegen die ansteigende
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