Die Suendenburg
Glück.
Ich rechnete damit, dass dieses Spielchen allenfalls ein Jahr andauerte, weil Orendel den ersten Winter im Verschlag nicht überleben würde, und malte mir immer wieder aus, dass ich von einer meiner Reisen zurückkehrte mit der Nachricht, Orendel sei gestorben. Ich würde nicht die wahre Todesursache nennen, das versteht sich von selbst, ich würde nicht gestehen, dass er an durch mangelnde Ernährung und große Kälte bedingter Schwäche verreckt sei, sondern behaupten, was weiß ich, dass er die Blattern bekommen habe und dass die braven Leute ihn eilig hatten verscharren müssen, worüber sie tief betroffen seien. Mir wäre schon etwas Schönes eingefallen. Das wäre ein Fest gewesen, der Gräfin unter vier Augen den Tod Orendels zu melden, und das Beste wäre gewesen, dass die Gräfin außer mir und Raimund keinem anderen Menschen ihre Trauer hätte zeigen dürfen, weil sie ansonsten die Entführung hätte eingestehen müssen, und das hätte böses Blut gegeben. Agapet konnte respektvoll, aber auch sehr grausam sein. Nun, was die Geheimnistuerei angeht, ist die Gräfin inzwischen so gut wie aus dem Gröbsten raus, da Agapet im Grabe fault, aber was das Übrige angeht, so wäre sie durchaus zutiefst verwundet, falls Orendel etwas zustieße. (Warum schreibe ich eigentlich in einer Form, die andere Möglichkeiten zulässt? Nein, es wird passieren, dieses Fest, von dem ich sprach, wird mir vergönnt sein. Aber ich will nicht vorgreifen.)
Orendel überstand den ersten Winter. Ich weiß nicht, wie er das schaffte, er, der früher zwischen zwei Kaminen und unter warmen Fellen gebettete Stammhalter. Er hustete ein bisschen, er schnupfte, und das war ’ s, Schlimmeres widerfuhr ihm nicht. Als ich ihn im ersten April nach der Entführung auf Geheiß der Gräfin aufsuchte, entdeckte ich in seinem Gesicht etwas, das ich niemals in ihm vermutet hätte, eine gewisse Resistenz, etwas Trotziges, Festes. Es war noch schwach ausgeprägt, aber dennoch vorhanden, erwachsen aus dem eisigen Boden des harten Winters.
Verflucht, dachte ich, er wird ewig leben.
Raimund war froh darüber. Er rechnete mir vor, dass uns jedes Jahr, das er weiterlebte, vier Goldstücke brachte, weil er im Quartal ein Goldstück für uns abzweigte. Er sagte: In fünf Jahren wären das zwanzig Goldstücke, damit würden wir uns freikaufen, ein kleines Gut erwerben und uns noch ein paar schöne Jahre im Alter bedienen lassen. Dieser Narr! Er dachte nur so weit, wie er pissen konnte. Zum einen, erklärte ich ihm mit handfesten Gesten, konnten wir das Geld auch abzweigen, wenn Orendel tot war, denn die Gräfin musste davon ja nichts erfahren. Und zum anderen musste er es erst einmal schaffen, Graf Agapet zu erklären, wie er an zwanzig Goldstücke gekommen war. Alles konnte aufgedeckt werden, und der Ort, wo man ihn dann bedienen würde, wäre ein finsteres, feuchtes Kerkerloch, gegen das Orendels Verschlag eine Königspfalz war. Nur auf das erste Argument eingehend, fragte er: Wieso lassen wir ihn denn überhaupt noch am Leben, wenn wir das Geld sowieso kriegen? Wieso bringen wir ihn nicht einfach um?
Die meisten Fragen, die in Raimunds Holzkopf entstehen, sind töricht, aber manchmal, sehr selten, stellt er gute Fragen. Das war so eine gute Frage. Ich war bis zu dieser Frage tatsächlich nie auf die Idee gekommen, Orendel zu töten, zumindest nicht unmittelbar zu töten. Es ist eine Sache, jemanden in einen Verschlag zu sperren und darauf zu warten, dass der Januar die Angelegenheit erledigt; aber es ist eine ganz andere Sache, ein Seil zu nehmen oder ein Messer oder festes Astholz … Wirklich, etwas völlig anderes ist das. Ich weiß, wovon ich rede. Raimund hätte mir diese schmutzige Arbeit ohne weiteres abgenommen. Ich habe ihm ein paarmal zufällig dabei zugesehen, wie er Gänsen den Kopf ab- und Forellen den Kopf eingeschlagen hat. Er tut es nicht nur einfach so, er hat Lust dabei, und wenngleich die Tötung eines Menschen etwas anderes ist, bin ich mir sicher, dass Raimund sehr gut funktioniert, wenn es so weit ist.
Wieso brachten wir Orendel nicht in jenem April nach dem ersten Winter um, als Raimund die Frage aufwarf? Ein Kopfnicken von mir hätte genügt. Und ich hätte genickt, zweifellos, denn es wäre meiner eigentlichen Absicht sehr entgegengekommen. Mir war es nie darum gegangen, Orendel wehzutun, mir war es immer nur darum gegangen, der Gräfin wehzutun, und solange Orendel lebte, blieb mir dieser Wunsch unerfüllt. Schlimmer
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