Die Suendenburg
bewirtet werden können. Von diesen zwei Goldstücken jedoch knapste Raimund ein Goldstück für uns ab, was natürlich niemand außer uns wusste, und das verbleibende Goldstück gab der schäbige Bauer zum größten Teil für Bier im Wirtshaus aus. Nur der allerkleinste Teil erreichte Orendels Magen.
Wie immer, wenn ich eintraf, umarmte Orendel mich. Er liebte mich abgöttisch von dem Tag an, da er ein Eremit geworden war, ein Gefangener. Man könnte nun einwenden, das sei keine große Leistung von mir gewesen, denn Orendel hätte vermutlich sogar eine Marionette geliebt, wenn diese ihm ein bisschen Zuwendung und Freundlichkeit gegeben hätte. Aber ganz so war es nicht. Ich habe schon ein bisschen mehr dafür getan. Obwohl ich ihm kein Wort zu schenken vermochte, war ich beste Gesellschaft für ihn, und obwohl mein Herz kalt war, meinte er Wärme zu spüren. Zu Anfang war es mir gleichgültig gewesen, was er spürte oder nicht, und ich strengte mich nicht an, geliebt zu werden. Bald jedoch fand ich Gefallen daran, dass er mich mehr als seine eigene Mutter liebte. Es war, als würde zwischen der Gräfin und mir eine Schlacht in dieser Jungmannesbrust ausgetragen und als gewänne ich langsam die Oberhand. Ich muss sagen, dass mich das nicht unberührt ließ. Der Kampf um Orendels Zuneigung war eine der wenigen Vergnügungen, die ich mir gönnte.
Ich merke gerade, dass, wenn ich es so oberflächlich beschreibe, wie ich es getan habe, keiner versteht, wie dieser Kampf ablief – was schade ist, da ich längst nicht mehr nur für mich schreibe, nein, im Grunde von Anfang an nicht für mich geschrieben habe, sondern ohne es gleich zu begreifen für den Leser einer anderen Zeit. Ob in zwanzig, hundert oder tausend Jahren, das ist mir einerlei, damit wische ich mir den Hintern ab. Irgendwann soll irgendjemand lesen, was ich getan habe, was ich noch tun werde und warum ich es getan habe.
Orendel … Das erste Jahr im Pferch … Der Barde verstand natürlich erst einmal gar nichts. So behütet, wie er aufgewachsen ist – und dann geraubt wie ein Sack Mehl und nur wenig später in einen Hühnerverschlag gesperrt, der von einer hohen Steinmauer umgeben wurde. Da würde sich wohl jedem der Kopf drehen. Mein Geheimauftrag von der Gräfin war gewesen, das Kind nach der Entführung eine Wochenreise entfernt bei freundlichen, guten, verschwiegenen und nicht zu armen Leuten mit Kindern in Orendels Alter unterzubringen. Dort sollte er in einer Umgebung aufwachsen, die seinem Naturell entsprach und ihn über die Trennung von der Familie und der Heimat zu trösten vermochte. Anrührend, nicht wahr? Ich scherte mich einen Dreck um den Auftrag und brachte Orendel dorthin, wo ich ihn haben wollte, und zwar zu armen, harten Bauersleuten, die froh über das Geld waren und noch froher darüber, dass sie kaum einen Finger dafür krumm machen mussten.
Selbstverständlich schrieb ihm die Gräfin Briefe, die sie mir mitgab, die aber ebenso selbstverständlich nie bei Orendel ankamen. Ich las sie, sobald ich unterwegs war, und warf sie dann weg. Orendel litt schrecklich unter seiner Einsamkeit und den Lebensumständen im Verschlag und fragte sich, wie seine Mutter ihm das antun konnte, ihn an einen derart schrecklichen Ort entführen zu lassen, selbst wenn es aus bester Absicht heraus geschehe. Mehrmals unternahm er Ausbruchsversuche, die an der hohen Mauer scheiterten. Wenn er fragte, warum er nichts von seiner Mutter hörte, und wenn er wissen wollte, warum man ihn so schlecht unterbringe, dann zuckte ich bloß mit den Schultern. (Wenn ich will, kann ich auch als Stumme beredt sein, aber wenn ich nicht will, kann ich nicht beredter als ein Löffel sein.) Orendel wunderte sich über meine Veränderung. Als Amme war ich stets fürsorglich gewesen – ich musste fürsorglich sein, es war mir befohlen –, und nun plötzlich verhielt ich mich wie ein Kerkerknecht. Er bestand bald darauf, seiner Mutter zu schreiben, und ich ließ ihn schreiben, las die Briefe, sobald ich unterwegs war, und warf sie dann weg. Noch auf dem Weg zurück schrieb ich neue Briefe – Handschriften fälschen hatte ich vor vielen Jahren zusammen mit dem Schreiben gelernt –, in denen Orendel sich überschwänglich für seine Errettung bedankte, seine Unterbringung lobte, von den Spielgefährten erzählte und als einzigen traurigen Umstand seines neuen Lebens die Sehnsucht nach der Heimat und der Familie nannte. Beim Erhalt dieser Briefe weinte die Gräfin vor
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