Die Sündenheilerin (German Edition)
gewesen sein. Zwischen Bettlern und Gesindel fristete er sein Dasein, immer in der Nähe des Hafens, in der Hoffnung, doch noch ein bekanntes Gesicht zu sehen oder einen Reisenden zu treffen, der seine Sprache verstand. Seine Ehre verbot ihm zu betteln. Stehlen wäre ohnehin nicht in Frage gekommen, aber die Arbeit eines Knechtes wollte er nicht tun.
Am dritten Tag kam plötzlich Leben in die Menge. Er sah, wie die Menschen zur Mole liefen. Die vornehm Gekleideten ebenso wie die Bettler und die arbeitsuchenden Lastenträger. Neugierig folgte er ihnen und vergaß für kurze Zeit sogar seinen nagenden Hunger. Ein großes Schiff aus dem fernen Alexandria hatte soeben festgemacht. Alle wollten sehen, welche erlesenen Waren es geladen hatte. Man wusste, dass der kaiserliche Hof sich gern aus Alexandria beliefern ließ, und die Menschen waren begierig darauf, einen Blick auf die Kostbarkeiten zu werfen. Diesmal waren es edle Pferde. Zierliche Araber, Stuten und Hengste von so grazilem Wuchs, wie mein Vater sie nie zuvor gesehen hatte. Plötzlich gab es einen Tumult. Irgendetwas hatte die Tiere erschreckt, und ein unvorsichtiger Pferdeknecht verlor die Zügel eines prächtigen Schimmels. Der junge Hengst wieherte und scheute, dann galoppierte er mitten durch die Menge, die schreiend auseinanderstob. Bis auf meinen Vater, der geistesgegenwärtig nach den fliegenden Zügeln des Pferdes griff, es aufhielt und beruhigte. Sofort waren die Pferdeknechte da und wollten ihm das Tier entreißen, als würde er es besudeln, anstatt sich für seine Hilfe zu bedanken. Doch der Besitzer der edlen Rosse hatte gesehen, was geschehen war. Und er hatte nicht nur einen Blick für gute Pferde. Er erkannte in meinem Vater mehr als den heruntergekommenen Hungerleider, der er zu sein schien, auch fiel ihm Vaters Siegelring auf. Ein Schmuckstück, das ein gewöhnlicher Bettler längst versetzt hätte. Mikhail von Alexandria war ein weit gereister Mann, der auch die Sprache meines Vaters verstand. So kamen sie ins Gespräch und fanden schnell Gefallen aneinander. Mikhail bot meinem Vater an, ihn nach Alexandria zu begleiten und in seine Dienste zu treten, er könne jemanden mit seinem Pferdeverstand gebrauchen. Nach kurzem Zögern sagte mein Vater zu. Mikhail war zwar ein Ägypter, doch er war Christ und pflegte gute Beziehungen zu den Rittern, die sich nach den vorangegangenen Kreuzzügen in Ägypten angesiedelt hatten. Von ihnen erhoffte mein Vater sich Hilfe bei der Rückkehr. Doch als er in Alexandria ankam, fiel sein Auge auf Mikhails einziges Kind, seine Tochter Meret. Und von da an war es für ihn nicht mehr wichtig, in die Heimat zurückzukehren, wo er sich ohnehin nur der Schande hätte stellen müssen, den Regensteinern derart aufgesessen zu sein. Mikhail war mit ihm mehr als zufrieden und freute sich, einen tüchtigen Schwiegersohn zu bekommen.«
»Eine wunderschöne Geschichte«, sagte Lena.
»Eine wahre Geschichte«, erwiderte Philip, »auch wenn sie in Euren Ohren wie ein Märchen klingen mag.«
»So hat Euer Vater gerade wegen des Verrats der Regensteiner sein Glück gefunden. Ihr seht, die Wege des Herrn führen auf die eine oder andere Weise immer zum Ziel.«
»So mag es scheinen«, antwortete er leise. »Aber seit ich in dieses Land kam, frage ich mich, ob er damals die richtige Entscheidung traf. Wäre sein jüngerer Bruder auch zu einem Mörder geworden, wenn mein Vater seinen angestammten Platz eingenommen hätte?«
»Das kann niemand wissen. Sicher war es schmerzhaft für seine Familie, ihn für tot zu halten. Aber er gab seinem jüngeren Bruder damit auch Rang und Namen. Euer Vater trägt nicht die Verantwortung dafür, dass Dietmar mit seinem Erbe so schändlich umging.«
»Oder dass sein Jugendfreund Theodrich von Limbach zum gefürchteten Räuber Barbarossa wurde?«
»Auch das ist nicht die Schuld Eures Vaters. Manche Männer achten ihre Ehre. So wie es Euer Vater auf Sizilien tat. Er hungerte lieber, anstatt zu betteln oder zu stehlen. Dafür hat Gott ihn belohnt. Andere tun dies nicht. Irgendwann werden sie dafür gerichtet.«
Ein kalter Schauer rieselte Philip über den Rücken.
Irgendwann werden sie dafür gerichtet.
Das Splittern einer Lanze, ein grauenvoller Schrei …
»Was ist mit Euch?« Lenas Stimme holte ihn zurück, ehe die Erinnerungen ihn erneut in den Abgrund der Schmerzen reißen konnten.
»Nichts, ich … ich habe nur an etwas Bestimmtes gedacht.«
»Für einen Augenblick glaubte ich, Eure
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